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Bericht über die Abschlusstagung zur ersten Förderperiode „Multitemporalitäten, Heterochronien, novantiquitates“, 3. bis 5. April 2019, Berlin

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[Abschlussbericht als PDF zum Download]

Die Forschungsgruppe 2305 hat in ihrer ersten Arbeitsphase von Sommer 2016 bis Sommer 2019 in acht Teilprojekten an der Freien Universität Berlin, der Ruhr-Universität Bochum und der Universität Zürich im Verbund gearbeitet. Sie hat es sich zum Ziel gesetzt, die vermeintlich lineare, häufig im Sinne eines Fortschrittsparadigmas interpretierte Abfolge ‚alter‘ und ‚neuer‘ Kulturphänomene aus einer veränderten Perspektive in den Blick zu nehmen. ‚Alt‘ und ‚neu‘ erweisen sich dabei als komplex verschlungene prozessuale Relationen, die in einem Zeit-Raum zustande kommen, der hybride Textphänomene generiert: Das Verbundprojekt möchte zeigen, dass ‚alt‘ und ‚neu‘ in ihrer vertraut wirkenden Antithetik moderne Kategorien der ‚Purifikation‘ (Latour) sind (die sich in diesem Fall als diachronische Dichotomisierung gibt), während sich auf der Phänomenebene beides typischerweise in bestimmten Konstellationen je spezifisch verbindet. Den zentralen Gegenstand bilden dabei englische, deutsche, italienische, französische, spanische, venezianische und neulateinische Texte, deren historisch je spezifisch ausgeprägte Traditionsgebundenheit und deren Tendenz zur intensiven Nutzung intertextueller Verfahren eine kritische Untersuchung komplexer, nicht-dichotomischer Verschränkungen sowie Relationierungen von vermeintlich Altem und vermeintlich Neuem herausfordert.

Die Verbundarbeit soll Kategorien für Konzeptualisierungen und Diskursivierungen von Neuem erarbeiten. Dabei soll eine Neubestimmung kultureller Dynamiken jenseits der theoretischen Opposition von Kontinuität und Bruch erreicht werden. Ausgangspunkt ist der Befund, dass epistemisch, sozial oder kulturell Neues oftmals in komplexer Weise mit bestehenden Text- und Gattungsformationen verkoppelt wurde. Damit sind Invention, Novation sowie die Verarbeitung von Irritation stets gebunden an Prozesse der Renovation, Restauration und Rekonzeptualisierung.

Zum Abschluss der ersten Förderphase hat die Forschungsgruppe an der Freien Universität Berlin die Tagung „Multitemporalitäten, Heterochronien, novantiquitates“ veranstaltet. Die Tagung fand in deutscher und englischer Sprache und in internationaler Besetzung statt (vgl. für Details zum Ablauf das Tagungsprogramm am Schluss dieses Berichts). Wie der Titel der Veranstaltung anzeigt, ging es um eine Verständigung über Kategorien der Zeitlichkeit, mit denen sich die historisch spezifischen Phänomene jener ‚alt‘-‚neu‘-Beziehungen fassen und theoretisieren lassen. Die Tagung diente dem Forschungsverbund einerseits zur Bestandsaufnahme des bisher in der gemeinsamen Arbeit Erreichten, andererseits zu einer kritischen Diskussion dieser Ergebnisse wie auch grundsätzlicher Probleme mit auswärtigen Experten*innen verschiedener Disziplinen.

Das Konzept der Tagung sah zum einen auswärtige Beiträge von mehreren key note speakers vor. Judith Pollmann (Leiden) sprach zum Thema „To Give Novelty to the Old and Authority to the New. Negotiating Novelty in Sixteenth-Century Europe“, Patricia Clare Ingham (Bloomington) über „Residual and Emergent: Temporal Patterns in Geoffrey Chaucer’s A Treatise on the Astrolabe“, Mordechai Feingold (Pasadena) hielt einen Abendvortrag zur Frage „No Longer Ancient? The Modernity of Early Modern Intellectual Life“, und Verena Lobsien (HU Berlin) behandelte „Ekphrastische Novationen des Mitfühlens bei Spenser, Sidney und Shakespeare“.

In den durch diese Beiträge aufgespannten Rahmen wurden zum anderen Diskussionen über die vier Arbeitsfelder eingelagert, in die sich die acht Teilprojekte der Forschungsgruppe seit Beginn der Verbundarbeit gruppieren. Dabei hatte jedes Teilprojekt einen durch spezifische Expertise exzellent ausgewiesenen Gast eingeladen und diskutierte mit ihm/ihr derart, dass einem kurzen Statement des Teilprojekts eine detaillierte Antwort des Gastes folgte und sodann die Mitarbeiter*innen des Teilprojekts mit dem Gast und allen bei der Tagung Anwesenden diskutierten. Die Ergebnisse dieses Verfahrens werden im Folgenden in der strukturellen Reihenfolge der vier Arbeitsfelder (1: Epische Texte zwischen Rückversicherung und Traditionsbruch; 2: Literarische Vertextungstraditionen und außerliterarische Wissensveränderung; 3: Historische Konstruktionen des Vergangenen und ihre Zurichtung auf Entwürfe des Gegenwärtigen; 4: Poetische und poetologische Codierungen und Umcodierungen von ‚alt‘ und ‚neu‘) dokumentiert.



Arbeitsfeld 1: Epische Texte zwischen Rückversicherung und Traditionsbruch

Die Teilprojekte 03 und 05 befassen sich mit Epen und eposaffinen Texten, also einem Textareal, das in besonderer Weise unter den gewichtigen Vorzeichen der literarischen Tradition steht, da es sich hier um ein Gattungsfeld handelt, das durch besonders stark normativ wirksame Vorbildtexte bestimmt wird. Nicht nur die literarische Praxis, sondern auch die einschlägige historische Theoriebildung stehen unter dem Vorzeichen einer Auseinandersetzung mit einer sehr früh wirksam gewordenen Gattungskanonisierung, die Tendenzen zur Hybridisierung in der späteren Wahrnehmung häufig überdeckt oder in den Hintergrund hat treten lassen. Doch gerade die Komplexität der ,alt‘-,neu‘-Interferenzen zwischen heterogenen und heterochronen Gattungsmustern und Textmodellen erzeugt Textformen, die jener originär starken Traditionsbindung tendenziell widerstreiten. Dies gilt sowohl für die komplexe Verschaltung des epischen Gattungsrepertoires mit dem historiographischen Diskurs (TP 03 zur Aktualitätsepik über die Französischen Religionskriege des 16. Jahrhunderts) als auch für die prekäre Vermittlung und schließlich kalkulierte Vermengung des epistemisch und diskursiv teils Konträren (TP 05 zur Gerusalemme liberata von Torquato Tasso). Beide Teilprojekte hatten Gäste eingeladen, mit denen über die produktive Friktion der traditionsbewussten Epik mit ,neuen‘ politischen, ideologischen, religiösen und poetologischen Aspekten und Erfahrungen zu diskutieren war.

 

TP 03: „Die Pistole des Mars. Zeithistorische Novität und episches Formularium im Frankreich der Frühen Neuzeit“

Statement: Jan-Friedrich Missfelder (Universität Zürich)

Response: Bernhard Huss/Daniel Melde (Freie Universität Berlin)

Das Teilprojekt befasst sich mit den Modi und Funktionen epischer Diskursivierung von Zeitgeschichte im Frankreich der Frühen Neuzeit. Konkret geht es um ein Corpus epischer Texte, das auf Darstellungsverfahren der klassisch-antiken Tradition des Epos zurückgreift, um die zeithistorischen Ereignisse der Französischen Religionskriege (1562-1628) zu behandeln. Alle diese Epen vertexten realhistorische Begebenheiten, die zum Zeitpunkt der Abfassung der Texte höchstens einige Jahrzehnte, teilweise jedoch nur wenige Monate vergangen sind. Für diese Spielform des Epos ist vom Teilprojekt der Begriff ‚Aktualitätsepik‘ geprägt worden. Darunter werden u.a. folgende Texte gefasst:

  • die Cité du Montélimar (1591) von Alexandre de Pontaymeri über den Kampf um die proestantische Kleinstadt Montélimar in den Jahren 1585/87;
  • die Henriaden, Epen über Henri IV, die u.a. Sebastien Garnier (Les huict derniers livres de la Henriade, 1593; Les huict premiers livres de la Henriade, 1594 [de facto nur Buch 1 und 2]) und Jean Le Blanc (Le premier livre de la Henriade, 1604) verfasst haben;
  • die gleichfalls mit dem Aufstieg von Henri IV und der französischen Geschichte von 1584 bis 1590 befasste Lutetias (1617) von Paulus Thomas d.Ä.;
  • das Eposfragment La France divisée (ca. 1594) von Pierre Boton, ein Panorama zum Religionskonflikt in Frankreich und Europa zwischen 1574 und 1588;
  • die Borbonias (1623) von Abraham Remmius über die geschichtliche Situation der Jahre 1620/22;
  • die Rupellais (1630) von Paulus Thomas d.J. über den Kampf um La Rochelle in den 1620er Jahren.

Diese Aktualitätsepen lassen sich als ein Phänomen von Multitemporalität begreifen, da zur Darstellung der historisch ‚neuen‘ Thematik eine generisch ‚alte‘ Form in Anschlag gebracht wird. Dies ist umso bemerkenswerter, wenn man das auf die Gattung Epik bezügliche prinzipielle ‚Aktualitätsverbot‘ Pierre de Ronsards und auch Torquato Tassos bedenkt, wonach das Epos die Darstellung rezenter Stoffe zu vermeiden habe, was ein Kriterium der differenzierenden Abgrenzung von einer historischer Faktizität verpflichteten Historiographie liefern soll. Die Mehrzahl der Epen im frühneuzeitlichen Frankreich unterläuft jedoch genau dieses Verbot.

Das Teilprojekt 03 hat sich lange Zeit auf Fragen der epischen Gattungsgeschichte und Gattungspoetik konzentriert, zum einen mit Blick auf die Herausarbeitung des heterogenen epischen Traditionsrepertoires, auf das die Aktualitätsepiker zurückgreifen, zum anderen hinsichtlich der historischen Epostheorie im frühneuzeitlichen Frankreich, welche trotz der prononcierten Position Ronsards ein auf horazisch-rhetorischen Postulaten basierendes Fundament für eine (zeit)historische Epik bietet (vgl. Huss 2017a; Huss 2017b; Melde/Bruns/Peters 2018).

Im Dialog mit dem Historiker Jan-Friedrich Missfelder, einem der ausgewiesensten Spezialisten für die Geschichte der Französischen Religionskriege, unternahm das Panel zu Teilprojekt 03 den Versuch, die poetologische Problematik auf eine umfassende kulturhistorische Fragestellung zu öffnen, die auf die soziokulturelle und politische Funktion der im Epos und durch das Epos vermittelten Diskurse zielt. Die Spannung zwischen Epos und Zeitgeschichte führt aus einer geschichtswissenschaftlichen Sicht über die Frage hinaus, inwiefern das Genre Epos gattungstypologisch zur Thematisierung der eigenen Gegenwart taugt – hier stellt sich übergreifend das Problem, welche spezifischen, etwa politischen, Einsätze und Wirkungsziele mit der Produktion aktualitätsepischer Texte verbunden sind. Missfelder pointierte es provokant: „Was hat man davon, die blutige Gegenwart der Religionskriege im Medium Epos zu formatieren?“

 

Gewalt, Herrschaft und agency

Ausgehend von Bernhard Huss‘ Analyse (Huss 2018) zu Alexandre de Pontaymeris La Cité du Montélimar (1591), einem aktualitätsepischen Text über die Ereignisse der mehrfachen Belagerung, Eroberung und Wiedereroberung einer protestantischen Kleinstadt im Dauphiné, fragte Missfelder, inwiefern es weniger die in der Aktualitätsepik verhandelte Zeithistorie an sich sei, die den generischen Traditionsrahmen herausfordere, als vielmehr die spezifisch neuartigen Praktiken der Gewalt während der Religionskriege. Die Französischen Religionskriege zeichneten sich gerade zu Beginn durch Gewaltformen aus, die einem positiv besetzten, heroisch markierten Gewalthandeln fundamental zuwiderlaufen sollten. Die 1560er Jahre kennen zwar auch Feldschlachten, in denen durchaus potentielle Heldenfiguren des hohen Adels persönlich involviert sind und teils auch fallen. Fast wichtiger für die Wahrnehmung und Erfahrung der Kriege, auch in späteren Phasen, seien aber Belagerungen, Scharmützel und vor allem Massaker (Wassy 1562 und die Bartholomäusnacht 1572). Pontaymeris Cité du Montélimar sehe sich genau dieser Spannung zwischen Formen kollektiver Gewalthandlungen in der historischen Praxis und dem epischen Postulat und Bemühen ausgesetzt, individuell episch-heroisches Handeln darzustellen. Auch wenn individuelles Heroentum mittels Übertragung epischer Konfliktkonstellationen aus der Ilias auf historische Momente in Montélimar partiell aufscheine und sogar metapoetisch thematisiert werde, zeige sich zugleich dessen Unmöglichkeit aufgrund ebenjener grausamen Gewaltpraxis, die in ihrer Ziel- und Sinnlosigkeit klare Held-Feind-Schemata verschwinden lässt. Heroismus könne sich also, wenn überhaupt, nur noch in einem begrenzten Mikrokosmos äußern, was auch den regionalen, teils gar lokalpatriotischen Charakter der Cité du Montélimar erklären könne.

Missfelder ist aus der Sicht des Teilprojekts zuzustimmen, wenn er die spezifische Gewalterfahrung der Religionskriege als neue Herausforderung für die Epik und die Darstellung epischer Heroizität anführt. Huss und Melde ergänzten aus gattungshistorischer Sicht, dass die Epik bereits seit ihren antiken Anfängen im Spannungsfeld zwischen der Darstellung kriegerischer Gewalt einerseits und der Stilisierung heroischer Tugendhaftigkeit andererseits steht. So hat man schon das hochpathetische, zu eindringlichen ‚sentimentalistischen‘ Effekten neigende Ende der Ilias, des Gründungstextes der europäischen (Kriegs-)Epik schlechthin, als Ausdruck einer ‚humanen‘, kriegskritischen Position verstehen können (der König Priamos fleht Achill um die Rückgabe seines von Achill getöteten Sohns Hektor an). Auch die Aeneis Vergils zeigt bereits das Problem epischer Heroizität im Krieg auf, wie sich etwa an der Rezeption und ambivalenten Bewertung der Tötung des Turnus durch Aeneas, ebenfalls am besonders stark markierten Ende des Werkes, erkennen lässt; die ganze Diskussion um eine etwaige ideologie- und kriegskritische, anti-imperialistische ‚second voice‘ in der Aeneis kreist letztlich um diese Problematik. Die Frage nach der generellen Möglichkeit eines positiv besetzten epischen Heroentums in Kriegszeiten verneinen schließlich in radikaler Weise Lucans historisches Bürgerkriegsepos Pharsalia oder Statius’ mythologisch düstere Thebais. Zur narrativen Bewältigung kollektiver Gewaltanwendung und für die Darstellung militärischer Brutalität hält das Repertoire der epischen Tradition unterschiedliche Möglichkeiten bereit: 1) Die umgreifende Schilderung von Massenkämpfen, die es gerade in den zwei zuletzt genannten Epen gibt, geht oftmals stufenlos in die Darstellung von Gruppen- oder Zweikämpfen (Duelle, Aristien) über. Derartige Fokussierungen drängen die allgegenwärtige Brutalität für einen Moment in den Hintergrund. 2) Massiver Gewalteinsatz im Epos kann durch eine übergeordnete göttliche Instanz legitimiert und damit zugleich kompensiert werden. Die Henriaden, Epen auf Henri IV zum Ende des 16. Jahrhunderts, bemühen sich vielfach, das gewaltvolle Vorgehen des umstrittenen Thronanwärters im Kontext eines göttlichen Auftrags zur Einigung eines gespaltenen Frankreichs zu rechtfertigen. 3) Schließlich lässt sich im Zuge heftiger Gewaltdarstellungen die Etablierung positiver, oft zu moralisierender Kriegskritik neigender Handlungsträger (z.B. Cato in Lucans Pharsalia) oder kriegskritischer Perspektivierungen und auch expliziter Einlassungen des Erzählers im Epos beobachten (z.B. Thematisierung des Leidens der Zivilbevölkerung bei Statius).

Die gegenstrebigen epischen Dimensionen der Rechtfertigung von Gewalt und ihrer Kritik brachten Missfelder zu der Vermutung, dass die Epik in historisch ‚chaotischen‘ (Bürger-)Kriegszeiten daran mitwirken könnte, bestimmte Inseln epischer agency zu sichern (oder zu retten), die zu einer Stabilisierung der durch Anomie-Erfahrungen, wie der Bartholomäusnacht, bedrohten sozialen und politischen Ordnung führen sollten. Hieran anschließend schlug Missfelder vor, die textanalytischen Befunde des Teilprojekts in Richtung einer möglichen politischen Funktion der Epik während der Religionskriege weiterzudenken, in der ein monarchozentrisches Nationalepos nach dem Vorbild Ronsards zu einem Problem, wenn nicht sogar zu einer Unmöglichkeit werden müsse. Königliche Herrschaft scheine zunehmend prekär und alternative Modelle politischer Herrschaft würden diskutiert (ligistischer Stadtrepublikanismus oder Konföderation hugenottischer Provinzen), wobei insbesondere die ultrakatholisch-ligistischen Gegenentwürfe zum Gravitationszentrum ‚König‘ für die Rechtfertigung der monarchischen Institution ein virulentes Problem in einem zunehmend als fragmentiert wahrgenommenen Frankreich darstellten. Die Dezentrierung, womöglich gar ‚Demokratisierung‘ der Epik hin zu einer Vielheit an ‚peripheren‘ Orten und Figuren, wie am Beispiel der Cité du Montélimar ersichtlich, könnte aus dieser Warte als eine solche politische Reaktion der Gattung gewertet werden, die Fragen politischer agency an immer neuen Lokalitäten mit neuem Personal durchspiele. Gegenläufig dazu würde sich die Henriaden-Dichtung verhalten, die an der Installation von Henri IV als dem ‚neuen‘ absoluten Monarchen arbeitet. Missfelder wies in diesem Zusammenhang darauf hin, dass mit Henri IV und Louis XIII das Modell einer absoluten Monarchie entsteht, welches sich deutlich von der Renaissancemonarchie eines François Ier unterscheidet. Das Selbstverständnis eines absoluten Monarchen hat sich über die Leitkategorie der Souveränität von den Begrenzungen einer konsultativen Herrschaft emanzipiert, sodass dem König eine potentiell unbegrenzte politische agency zugesprochen wird. Es handelt sich dabei um eine politiktheoretische ‚Neuheit‘, auf die die Aktualitätsepik reagieren müsse, was die multitemporale ‚alt‘-‚neu‘-Relation weiter verkompliziere. Laut Missfelder wäre daher eine Untersuchung der Aktualitätsepik auf politiktheoretische Terminologie der Zeit lohnend, um den Beitrag der Gattung für die zeitgenössische Diskussion unterschiedlicher Herrschaftsmodelle ermessen zu können. Huss und Melde verwiesen in diesem Zusammenhang auf bestehende Ansatzpunkte aus der Forschung, u.a. Quint 1993, dessen Unterscheidung zwischen monozentristischer, ideologiestabilisierender „Siegerepik“ und dezentrierter, durch ideologische Brüche gekennzeichneter „Verliererepik“ mit Blick auf die divergierenden Ausprägungen der Aktualitätsepik und deren Funktionalisierung während der Französischen Religionskriege von Nutzen sein könne.

 

Aktualitätsepik und Historiographie

Missfelder stimmte der von Huss aufgestellten These zu, wonach die Möglichkeit, Zeitgeschichte im literarischen Feld zu erzählen und ideologisch zu perspektivieren, sinnvoll eigentlich nur durch die Gattung des Epos gegeben war. Die von Huss mittels Jörn von Rüsens Typologie des historischen Erzählens exemplarisch an Pontaymeris Cité du Montélimar herausgearbeitete Nähe von Epik und Historiographie zeige, dass die Aktualitätsepik einen nicht zu unterschätzenden historiographischen Anspruch erheben könne. Dennoch stelle sich die Frage nach dem spezifischen Mehrwert des Epos in Abgrenzung zur ‚traditionellen‘ Historiographie, eine Frage, die, so Missfelder, der Nachweis funktionaler Äquivalenz der beiden Genres eher verdecke als genauer beleuchte. Ein Seitenblick auf Agrippa d’Aubigné könne für diese Problematik lohnend sein: D’Aubigné bediene ja mit den Tragiques und seiner Histoire universelle in zwei Genres dasselbe Sujet.

Missfelder berührte an dieser Stelle einen für das Teilprojekt zentralen Punkt. In der Tat lässt sich mit von Rüsens Theoriebildung zunächst nur ein Nahverhältnis und eine Affinität von Epik und Historiographie beschreiben. Interessanterweise kann dies aber, wie Huss und Melde betonten, in einem Zusammenhang mit antiken (Quintilian, Horaz) und rinascimentalen (Pontano, Scaliger) Positionen verortet werden, die die Historiographie nicht nur der Epik, sondern ganz allgemein der Dichtung analog setzen. Hieran sieht man, dass Epik/Dichtung und Historiographie nicht als polare Antithese, sondern als im Einzelfall variierendes Spektrum von Texten mit der Thematik Kriegserzählung wahrgenommen werden. Die Nähe der beiden Genres resultiert insbesondere aus den vergleichbaren rhetorischen Strategien, die bei der (Re-)Konstruktion und narrativen Aufbereitung des geschichtlichen Materials zur Anwendung kommen. Dies betrifft zunächst vor allem die Ebenen der inventio (z.B. Einbau von Reden, Exempla, Vergleichen) und der dispositio (z.B. analeptische oder proleptische Einschübe). Für Scaliger, der mit seinen Poetices libri septem (1561) in Frankreich sehr einflussreich war, gilt Lucan, Autor eines historischen Epos, schon allein aufgrund der Tatsache, dass er in Versen über den römischen Bürgerkrieg schreibt, ganz selbstverständlich als Dichter. Unterschiede zwischen Epik und Geschichtsschreibung lassen sich in diesem poetologischen Verständnis nicht an der Stoffwahl festmachen. Gleiches trifft auf die Frage nach dem Wahrheitsanspruch zu. Gerade die Aktualitätsepiker reklamieren den Aspekt der wahrhaftigen Darstellung für sich im Sinne eines ihre Texte aufwertenden Merkmals (z.B. Alexandre de Pontaymeri oder Sébastien Garnier).

Huss und Melde hielten auf Missfelders Frage nach den Spezifika der Aktualitätsepik im Vergleich zur mit Zeitgeschichte befassten Historiographie Folgendes vorläufig fest:

(1)   Aufgrund ihrer deutlichen ideologischen Modellierung von Antagonismen und der eindringlichen poetischen Bildsprache verfolgen die Aktualitätsepen stärker als die Geschichtsschreibung das Ziel des movere. Dies kann sich einerseits in einer laudativ-panegyrischen Ausrichtung der Aktualitätsepik in Anlehnung an Vergil und Claudian äußern, die bestimmte Feldherrn oder Herrscherfiguren glorifizieren und ihnen politische Legitimation verschaffen soll. Auf der anderen Seite bewegen die Aktualitätsepen das Lesepublikum aufgrund ihres (an)klagenden Tons, in dem Kriegsleiden beweint und mittels eindrücklicher Schreckensbilder, wie man sie aus den Epen Lucans und Statius’ kennt, vor Augen geführt werden.

(2)  ‚Unerklärliche‘ Konflikthandlungen oder Handlungselemente, die möglicherweise nicht anderweitig erklärt werden sollen, können durch die Einführung über- oder unterweltlicher Agenten (Götterapparat vs. Furien/Unterwelt/Höllenkonzil) motiviert werden. Das Numinose wird handlungsbegleitend, wenn nicht sogar -bestimmend, und findet beispielsweise in Orakeln oder Prophezeiungen, gefolgt von eindringlichen naturphysikalischen Erscheinungen, seinen Ausdruck.

(3)  Mittels Analogisierung bzw. Kontrastbildung zwischen Kriegsgeschehen und epischer Textwelt ließe sich von einer ‚epischen Aufwertung‘ der historischen Wirklichkeit oder im Gegenteil von einem Aufweis von deren ‚unepischem Charakter‘ sprechen. Dies kann durch die narrative Montage von Heroen vs. Antihelden oder das fokussierte Herauspräparieren von Residuen epischer Idealität erfolgen, was, mit den Worten Missfelders, „Inseln epischer agency“ in Bezug auf die zeithistorische Wirklichkeit sicherstellt. Damit erhält die Epik eine Orientierungsfunktion durch die Rückbindung an Orte, Personen und Szenen, die aus einer ‚alten‘, mit überzeitlicher Bedeutung versehenen Gattungstradition herrührt. Das normalerweise auseinandergespannte Zeitverhältnis von Mythos und Geschichte wird dabei eng zusammengeführt; die Zeitebenen koinzidieren geradezu.

Schließlich regte Missfelder an, den konkreten Status von Zeitgeschichte in anderen Texten bzw. Textgattungen oder auch anderen Medien während der Religionskriege mit zu berücksichtigen. Zeitgeschichtsschreibung ereigne sich über die ‚traditionelle‘ Historiographie und die Aktualitätsepik hinaus auch in collageähnlichen Textformaten oder Gebrauchstexten wie z.B. Mémoires, Pamphleten, Flugblättern, Broschüren oder bildlichen Repräsentationen. Oftmals fungierten diese mit Zeitgeschichte befassten Text- bzw. Bildtypen als Nachrichtenmedien. Missfelder fragte hier: Könnte man im Anschluss daran unter Umständen auch den ‚Newswert‘ von Aktualitätsepik beschreiben und damit verbunden auch die Position des Genres in einem differenzierten Feld zeithistoriographischer Texte thematisieren?

 

Konfessionelle und politische Dynamiken in der Aktualitätsepik

In Reaktion auf Daniel Meldes Aufsatz „Dynamiques confessionnelles et politiques dans la poésie épique henricienne (1593-1617)“ (Melde 2020) vertiefte Missfelder die Analyse von Konfession nicht nur als einer Differenzmarkierung, sondern als eines dynamischen Faktors in den Aktualitätsepen. Dieses Problem ist vor dem Hintergrund der Konversion von Henri IV besonders virulent. Melde und Missfelder waren sich einig, dass Religion und Politik im Frankreich der Religionskriege untrennbar miteinander zusammenhingen. Hinter jeder konfessionellen Gruppierung verberge sich immer auch ein politisches Programm bzw. ergäben sich Spannungen zwischen konfessioneller Zugehörigkeit, königlicher Herrschaft und Bündnisbemühungen mit anderen Herrscherhäusern in Europa.

In den Henriaden zeige sich, dass Konfession nur in sehr geringem Maße als Differenzmarkierung zur Konfliktmodellierung im Epos diene. Die Henriade (1593/94) von Sébastien Garnier etabliere eher den ideologischen Konflikt auf der Ebene des ‚Nationalen‘. Das Epos inszeniere die Schlacht von Ivry (1590) so, dass dem homogenen französischen Block von Henri IV das von Spanien angeführte, ethnisch heterogene Heer der Liga gegenüberstehe, das nur unter dem Deckmantel der Religion („prétexte hipocrite“) agiere. Ordnung und ethnisch-nationale Homogenität valorisierten die Partei von Henri IV positiv gegenüber dem chaotischen Erscheinungsbild des ligistischen Heeres. Franzosen, die gegen Henri IV ins Feld ziehen, würden in ihrer nationalen Herkunft infrage gestellt. Spanien erweise sich aufgrund seiner arabisch geprägten Vorgeschichte als ideales Feindbild, an dem sich Frankreich schon länger abgearbeitet habe. Durch die Konzentration hierauf trete der innerfranzösische Religionskonflikt des 16. Jahrhunderts ideologisch opportun in den Hintergrund. Der in Garniers Epos mehrfach angeführte Verweis auf Henris Ahnherrn, „Saint Louis“, diene in diesem Zusammenhang nicht nur der mit der „loi salique“ verbundenen dynastischen Legitimation, sondern lasse das Handeln der royalistischen Truppen als Kreuzzug gegen einen orientalisierten Feind und Henri IV als den wahren Verteidiger der Christen erscheinen.

Eine umfassende Bedeutung der Konfession für die ideologische Konfliktmodellierung zeige sich dann erst in den Aktualitätsepen des frühen 17. Jahrhunderts, die in der Zeit von Henris Nachfolger, Louis XIII, entstehen. Die pia religio, womit der katholische Glaube gemeint sei, gelte in diesen Texten als die „loi fondamentale“ des französischen Königshauses. Explizit stelle ein Text wie die Lutetias (1617) den ‚neuen‘ Glauben der Calvinisten (nova sacra) als einen über den Rhein gekommenen impius error dar. Bemühungen, die auf eine friedliche Koexistenz der zwei Konfessionsgruppen abzielen (wie sie u.a. Charles IX und Henri III anstrebten), würden scharf abgelehnt. Die Rückkehr zur pia religio sehe die Aktualitätsepik des frühen 17. Jahrhunderts (neben der Lutetias sind dies noch die Borbonias, die Turcias und die Rupellais) in der Regentschaft von Louis XIII realisiert. Ein sehr eindringliches Beispiel für diese konfessionsideologische Perspektivierung sei eine Szene aus der Borbonias des Abraham Remmius, in der Louis XIII die christliche Trinität anruft und von dieser drei Pfeile erhält, die der Monarch zur Vernichtung der sich ihm entgegenstellenden Erscheinungen einer personifizierten Haeresis Calvins und Luthers nutzt. Meldes Befund der zunehmenden Bedeutung des Religiösen in der Aktualitätsepik des frühen 17. Jahrhunderts deckte sich mit Missfelders Lektüren anderer Texte zu dieser Zeit, in denen der Aspekt der Häretikerbekämpfung den Horizont des Nationalen, wenn nicht gerade verdecke, so doch gehörig beschatte.

 

TP 05: „Canto l’arme pietose. Hybrisidierungen von ‚alt‘ und ‚neu‘ in Epos und Epostheorie des Secondo Cinquecento“

Statement: Federico Di Santo (Freie Universität Berlin)

Response: David Nelting/Maria Debora Capparelli (Ruhr-Universität Bochum)

Das Teilprojekt 05 möchte eine traditionell präsupponierte Dichotomie posttridentinisch konfessioneller und humanistischer Diskurse im Bereich der Literatur einer Revision unterziehen und vorschlagen, die kulturelle Dynamik des Secondo Cinquecento nicht im Sinne einer Abfolge oder eines Widerstreits (einer ,Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‘) von ‚weltlichem Renaissancehumanismus‘ einerseits und ‚geistlich-rigoristischer Gegenreformation‘ andererseits zu beleuchten, sondern zu fragen, ob sich in den betreffenden Zusammenhängen nicht auch literar- und rationalitätsgeschichtliche Hybridisierungen beobachten lassen. Von großer einschlägiger Repräsentativität ist das epische und epentheoretische Werk Torquato Tassos, in welchem das (epistemische, ideologische, thematische und motivische) Aufeinandertreffen humanistischer und konfessioneller Traditionsbestände und Formularien gattungsgeschichtlich von der konfliktträchtigen Beziehung zwischen ‚spielerischem‘ romanzo cavalleresco und sinnstiftend einheitlichem poema eroico begleitet wird, wobei Tasso bestrebt ist, den aus Sicht des klassizistischen Aristotelismus ‚modernen‘ und deswegen defizitären romanzo cavalleresco mit dem antik rückversicherten und dadurch in seiner Anciennität geltungsstarken poema eroico zu verschränken. Die zentrale These lautet, dass ‚alte‘ und ‚neue‘ Diskurse bei Tasso in einem Spannungsverhältnis von Rückversicherung und Traditionsbruch nicht nur miteinander konkurrieren, sondern dass sie sich mit dem Ziel einer umfassenden Integration gegenseitig durchdringen.

Als Dialogpartner lud das TP 05, das sich vor diesem Hintergrund vor allem auf Tassos Gerusalemme liberata (1581) und seine dichtungstheoretischen Kontexte konzentriert, Dr. Federico Di Santo ein, der als Humboldt-Stipendiat mit einem Projekt zu „The Rhyme: Theory and History of Rhyme in Italian and European Literature“ an der FU Berlin tätig war und mit einer Arbeit zur Ilias-Rezeption in der Renaissanceepik von Trissino bis Tasso 2012 in Pisa promoviert worden ist. Di Santo erschien von daher im Gegenstand optimal ausgewiesen. Er vertritt einen methodischen Blick auf das Sujet, der sich aus einer wissenschaftlichen Profilbildung an renommierten italienischen Forschungseinrichtungen speist und somit außerhalb der deutschsprachigen Romanistik und ihren (v.a. methodisch-heuristischen) Traditionen verortet ist. Diese Ausgangskonstellation schlug sich in einem für das TP 05 außerordentlich fruchtbaren Statement nieder, dessen Gliederung im Folgenden wiedergegeben wird (Wortlaut in Nelting/Capparelli/Di Santo 2019).

 

Epos und romanzo 

Nach einer kurzen Zusammenfassung der Grundanliegen des TP 05 aus der Sicht von Federico Di Santo, auf der Basis der bisherigen Projektveröffentlichungen, stellte Di Santo zunächst den Punkt „Epos and romance“ ins Zentrum der Diskussion. Hier fragte er nach der Beziehung der Begriffe epopeia, romanzo und poema in Tassos poetologischen Texten, vor allem den Discorsi del poema eroico von 1591. Di Santo wies in diesem Zusammenhang darauf hin, dass der romanzo selbst bereits eine hybride Form darstelle („a genre hybridized with epic: first with the vernacular epic of the chansons and then with classical Latin epic“). Vor diesem Hintergrund benannte Di Santo die handlungsbezogene Technik der „diversion“ als zentrales Merkmal des romanzo, das als solches auch von Tasso reflektiert und rezipiert werde und das, wie Di Santo nachdrücklich betonte, bereits wesentliches Merkmal der antiken griechischen Epik gewesen sei. Insbesondere Tassos Figur des Rinaldo trage die „fictional and romanesque diversion“ in Tassos Gerusalemme liberata, in deren „third space“ Tasso „epic and chivalric poetry“ gegenseitig integriere. Nelting und Capparelli begrüßten diese Ansätze als Bestätigung und – vor allem hinsichtlich der Einbindung der homerischen Traditionslinie – wichtige Ergänzung der eigenen Arbeit nachdrücklich. Sie nutzten gleichzeitig die Gelegenheit, das Verhältnis der drei eingangs genannten Kategorien in Tassos Dichtungstheorie aus der Sicht des TP 05 noch einmal vertieft zu klären: Epopeia, so die Lektüre der Discorsi del poema eroico durch das TP, fungiert bei Tasso als ein hierarchisch übergeordneter Begriff, welcher die Integration der unterschiedlichen Möglichkeiten epischen Dichtens, die in der zeitgenössischen Debatte mit den Begriffen des romanzo und seiner varietas („diversion“) auf der einen Seite und des aristotelisch-einheitspoetischen poema eroico auf der anderen Seite in Verbindung zu bringen sind, anzeigt. Tasso geht es, so lässt sich anhand der Darstellungsökonomie der Discorsi behaupten, mit seiner Liberata weniger darum, in einer Gegenbewegung zum romanzo ein – so der Topos der Literaturgeschichte – poema eroico jenen Zuschnitts vorzulegen, wie ihn der zeitgenössische humanistische Aristotelismus eines Pigna oder eines Minturno fordert, sondern darum, eine epopeia zu schaffen, welche den historischen Antagonismus von romanzo und poema in dem dritten Raum einer alle Möglichkeiten epischer Rede überwölbenden und integrierenden epopeia aufzuheben und auf diese Weise selbst mit seinem Werk überzeitliche Geltung zu erlangen.

 

Ideologische und literarische Hybridisierungen, ‚Humanismus‘ und ‚Gegenreformation‘

In der Folge konzentrierte sich Di Santo auf die Frage „Is Hybridization equally ideological and literary?“. An dieser Stelle kam die ideologische Dimension der ,alt‘-,neu‘-Beziehungen in der Liberata, die zuvor im Rahmen der Verbindung des romanzo als der nachantik ,modernen‘ Gattungsform auf der einen Seite und des antikisierenden poema als des klassizistischen Retrogenres auf der anderen Seite diskutiert wurden, ins Spiel, genauer: das Verhältnis humanistisch säkularer und konfessioneller (,gegenreformatorischer‘) Semantiken in der Liberata. Di Santo unterstrich die „novelty“ des Ansatzes von TP 05, die beiden Sinnsysteme in der Liberata nicht als dichotomisch zu veranschlagen, sondern als hybride Verschränkung zu denken, und er hielt hier fest, dass ihm die ideologische Hybridisierung nachvollziehbarer erscheine als diejenige von „epic and romance“. Nelting und Capparelli betonten an dieser Stelle Tassos Bestreben der Integration von romanzo und poema in einem umfassenden Epos, welches in der konsequenten Nutzung aller traditionellen Möglichkeiten epischen Dichtens die Grenzen der historischen Gattungskonzepte romanzo und poema eroico überschieße, was sich an der dritten von Tasso aufgerufenen Begrifflichkeit der epopeia terminologisch ablesen lasse. Hier schloss Di Santos nächster Punkt an, und zwar die Frage nach dem spezifischen Verhältnis Tassos zu der Poetik des Aristoteles („The Poetics of Aristotle“). Di Santo machte in seinem Statement sehr deutlich, dass Tasso anders als die ihm zeitgenössischen Dichtungstheoretiker bzw. Aristoteleskommentatoren wie Giraldi, Pigna und besonders der von Tasso wenig geschätzte Castelvetro einen sehr eigenen, weniger regelpoetisch klassizistischen Zugang zu Aristoteles eröffne. Tasso rekonstruiere nämlich, so Di Santo, die aristotelische Wahrscheinlichkeitslehre und auch seine Regeln zur Handlungsverknüpfung sehr viel näher am historischen Aristoteles als es die vor allem an dem lateinischen Klassiker Vergil orientierten Renaissancehumanisten zumeist täten. Dadurch gelange Tasso zu einem wesentlich flexibleren ‚Aristoteles‘, dem vor allem die Modelle Homers vor Augen gestanden hätten, und folgerichtig zu einer wesentlich ‚offeneren‘ Vorstellung von einem im aristotelischen Sinn vorbildlichen epischen Dichten. Dadurch könne in der Liberata ein Epos entstehen, das im historischen Kontext aus der Warte heutiger Analyse und Theoretisierung als Hybride beschreibbar sei, im konzeptuellen Selbstverständnis der historischen Theoriebildung sich aber ‚nur‘ als eine konsequente Aktualisierung des bei Aristoteles bereits Angelegten darstellen wolle.

 

Figurationen des Paganen und Perspektivierung der ‚Entscheidungsschlacht‘

Ausgehend vom laufenden Dissertationsprojekt Maria Debora Capparellis widmete sich Di Santo weiterhin der Frage nach der Heidendarstellung in der Liberata („Representation of the Pagans“). Auffällig sei, dass Tasso die muslimischen Gegner und die christlichen Ritter seltsam ambig darstelle, genauer: dass es entgegen der eigentlich erwartbaren propagandistischen Dualismen von Gut und Böse hier auf der Ebene der Handlungsführung und auf der Ebene der Figurendarstellung zu Überschneidungen und Überkreuzungen komme. Dies wurde von der Forschung vielfach als Unterminierung/Subversion/Dekonstruktion der konfessionellen Semantik des Epos gedeutet. An dieser Stelle fragte Di Santo, ob der Hybridisierungsbegriff auch für die Darstellung der Heiden fruchtbar gemacht werden könne – eine Frage, auf welche Nelting und Capparelli nach einer kurzen Rekapitulation einschlägiger Forschungspositionen ganz klar bejahend antworteten. Tasso überschieße nachhaltig die Grenzen traditioneller „winners‘ epics“ (Quint 1993) und öffne das poema (genauer: sein ‚hybrides‘ Modell eines übergreifenden Epos) auch inhaltlich auf einen dritten Raum, in dem einschlägige Motivrepertoires von Homer aufwärts dazu genutzt würden, eine fiktionale Welt der „Unentscheidbarkeit“ (Kerl 2004) herzustellen, in der sich Möglichkeiten und Durchlässigkeiten ergäben, welche sich in der Pragmatik der historischen Lebenswirklichkeit vielleicht akzidentell, so systematisch aber schwerlich finden ließen.

Auf dasselbe Feld zielte der letzte Punkt von Di Santos Statement, in dem es um die letzte große Schlacht, um die Eroberung Jerusalems, ging („Final Battle“). Di Santo verzeichnete hier, dass Tasso im Gegensatz etwa zur Ilias eine außerordentlich ,moderne‘ Form der Schlachtendarstellung entfalte, die ihre Modernität freilich zu einem Gutteil aus der entschiedenen Rekombination vorgängiger Muster beziehe, wobei neben Höfischem Roman und romanzo cavalleresco hier auch in hohem Maße homerische und vergilianische Modelle von Belang seien. Wenn Di Santo seine diesbezüglichen Beobachtungen mit dem Postulat schloss, in diesem Textteil der Liberata sei vom Ergebnis her letzten Endes ein „true hybrid, something third, completely new, which is not at all the same as the simple sum of its epic and chivalric components“ zu verzeichnen, konnte das TP 05 diesen Ansatz nur vehement bestätigen.

Gerade die letzte Schlacht des Epos erscheint dem TP ebenso in formalästhetischer wie in semantischer Hinsicht als ein ,in between‘ und damit als ein Fiktionsraum, der in der Lage ist, kulturelle Differenzen zu überholen, indem er unterschiedliche Diskurssysteme nicht miteinander dualistisch konkurrieren lässt, sondern sie miteinander verschränkt. Wichtig im Hinblick auf die Verwendung des Hybriditätsbegriffs ist dabei der Verzicht auf die für postkoloniale Zusammenhänge (zu Recht) wichtige Dimension der Subversion. Tasso geht es, so der Eindruck, wie schon bei der Verhandlung von romanzo und poema nicht um Subversion, sondern um Integration.

Die anschließende Diskussion im Plenum verlief zustimmend und beschränkte sich auf Detailfragen, wobei freilich noch einmal Querverbindungen zwischen TP 05 und TP 03 hinsichtlich poetologischer Hybridisierungen deutlich wurden, die empirisch mit der Tasso-Rezeption in Frankreich zu erklären sind. Methodisch-systematisch wurde von Ananya Jahanara Kabir der Vorschlag gemacht, ob anstelle der Hybridisierung mit ihren postkolonialen Implikaten im vorliegenden Feld nicht auch der Begriff der Creolization zu verwenden wäre – was vom TP als grundsätzlich wichtige Anregung aufgenommen wurde, wobei freilich auch diese Kategorie der Creolization nicht implikationsarm ist und an dieser Stelle überdies auch an das Design der gesamten FOR adressiert wäre.

 


Arbeitsfeld 2: Literarische Vertextungstraditionen und außerliterarische Wissensveränderung

Die Widerstrebigkeit ‚alter‘ und ‚neuer‘ Deutungsmuster und Textstrategien ist über das Epische hinaus ganz grundsätzlich zu beobachten, sobald die Lite­ratur, die sich aus intertextuellen und systemreferentiellen Anschlüssen an die über­kom­me­nen Vertextungsverfahren speist, Veränderungen des außerliterarischen Wissens­spek­trums zu registrieren und zu verarbeiten hat. Auf solche Veränderungen muss eine Gattung wie das Lehrgedicht akut reagieren, bewältigt dies aber nicht durch eine lineare Fortentwicklung des Repertoires ihrer eigenen Darstellungsverfahren, sondern sucht durch eine Reaktualisierung und Neukombination ‚alter‘ motivisch-topischer Elemente und struktureller Prozeduren die episte­mi­sche Novität zu beherrschen, die aus einem sich in divergenter Weise entwickelnden Diskurs der ‚neuen‘ Wissenschaftsdisziplinen resultiert (TP 06 Roling). Diese der Literatur seit dem Ausgang der Renaissance in verstärkter Weise gestellte Aufgabe, auf extraliterarische epistemische Neuerung zu reagieren, führt in der Wahl der literarischen Mittel (Gattungsmuster usw.) aber selbst im 18. Jahrhundert nicht einfach zu einer Ablösung oder Abdrängung traditionsgebundener Verfahren; vielmehr ist ein an der Vermittlung von Novation interessierter Zugriff auf klassizistische Diskursformen festzustellen, der sich in hybriden Konstellationen ausformt und einer Tendenz der Forschung entgegensteht, aufklärerische Literatur als formalästhetisch ‚fortschrittliche‘ Literatur zu identifizieren (TP 08 Hempfer).

 

TP 06: „Philosophia cantat. Umbruchsbewältigung in der philosophisch-naturwissenschaftlichen Lehrdichtung der Frühen Neuzeit“

Statement: Martin Korenjak (Universität Innsbruck)

Response: Bernd Roling/Ramunė Markevičiūtė (Freie Universität Berlin)

Mit Martin Korenjak, Professor an der Universität Innsbruck im Bereich Gräzistik und Latinistik, wählte sich das Teilprojekt 06 einen Experten für lateinische wissenschaftliche Literatur der Frühen Neuzeit zum Gesprächspartner. Seit 2011 betreut Martin Korenjak die Projekte zur Rolle lateinischer Literatur der Frühen Neuzeit in der Wissenschaftsgeschichte an der Universität Innsbruck und am Ludwig Boltzmann Institut für Neulateinische Studien. In Zusammenarbeit mit dem ERC-Projekt ‚NOSCEMUS‘ haben es sich Korenjak und sein Team zum Ziel gesetzt, einen Überblick über die unterschiedlichen Gattungen lateinischer wissenschaftlicher Literatur zu schaffen und deren Funktion in der wissenschaftlichen Gemeinschaft der Zeit zu beleuchten. Im Rahmen des Programms ‚Latin literature as a medium for Early Modern Science‘ soll es um die breitere Erschließung derjenigen Medien gehen, welche die ‚scientific revolution‘ eigentlich getragen haben, in der Wissenschaftsgeschichte jedoch vernachlässigt werden, nämlich die Texte.

Der Kommentierung des Teilprojekts 06 näherte sich Korenjak aus zwei Perspektiven, nämlich einer engeren, die sich auf das lateinische Lehrgedicht im Speziellen bezog, und einer weiteren, welche das breite Spektrum der lateinischen Wissenschaftsliteratur der Frühen Neuzeit sondieren sollte und mit Beispielen aus Korenjaks Projektarbeit gespeist werden konnte. Im Hinblick auf das Lehrgedicht bezog sich Korenjak auf seinen eigenen Beitrag zur lateinischen Lehrdichtung (Korenjak 2019) und stellte die in vielerlei Hinsicht mit denen des Teilprojekts 06 übereinstimmenden Ergebnisse heraus. Eine gemeinsame Basis für beide Projekte bestehe, so Korenjak, zunächst in der Grundannahme, dass das frühneuzeitliche Lehrgedicht in erster Linie auf die Vermittlung von Wissensinhalten ziele und nicht bloß auf eine kreative Einübung der Literaturnachahmung. Damit griff Korenjak einen Grundgedanken des TP 06 auf, dass nämlich im Zeitalter der wissenschaftlichen Revolution, die besonders zahlreiche und gravierende Veränderungen im Wissensbestand gebracht hat, die Lehrdichtung den Vorteil besitze, Neues in einer vertrauten Form darzulegen und es dem Rezipienten dadurch sowohl akzeptabler als auch weniger beunruhigend erscheinen zu lassen. Um jedoch die Diskrepanz zwischen poetischem Register und der Wissenschaftssprache zu meistern, greifen die frühneuzeitlichen Autoren nach Korenjaks Beobachtung oftmals zu verschiedenen Lösungsansätzen, die unter anderem auch zu Mischformen führen können, wie sie Bernd Roling für das Marienepos des Julius Caesar Delphinus, einer Mischung aus Bibelepos und Lehrgedicht, aufzeigen konnte (Roling 2018). Wichtige Termini könnten ergänzend zum poetischen Text in Fußnoten erläutert werden, wie es von Francesco Savastano in seinen Botanicorum libri IV gehalten werde. Alternativ werde das Gedicht mit einem Prosakommentar versehen, wie ihn Bošković zu Benedict Stays Lehrgedicht über die Newton’sche Philosophie verfasst habe. Carlo Noceti hingegen bemühe sich in der Iris, technische Begriffe den Lesern durch Umschreibungen zugänglich zu machen. Der Kampf mit dem spröden Stoff werde somit ganz nach antiker Tradition mindestens so sehr als Chance wie als Schwierigkeit begriffen. Den Drang der Dichter nach neuen Stoffen, die sie in den Neuheiten der Naturwissenschaften finden konnten, sah Korenjak als einen der Gründe für die Blüte des lateinischen Lehrgedichts bis zum Ende des 18. Jahrhunderts.

Besonders erhellend erschien Korenjaks Beobachtung, dass Phänomene der frühneuzeitlichen Wissenschaftsliteratur, die ihm in der Projektarbeit begegnen, den Schluss zuließen, Beobachtungen des Teilprojekts zum Lehrgedicht könnten auf die literarische Vermittlung von Naturwissenschaft in der Frühen Neuzeit generell umgelegt werden. Die Präsentation von Neuem in altem Gewand sei ein wichtiges Merkmal der Literatur der wissenschaftlichen Revolution im Allgemeinen. Dafür lieferte Korenjak einige aussagekräftige, sowohl allgemeine als auch literarische Beispiele. Das Alte sei ganz zu Beginn das Neue, wenn die Neuentdeckung und Übersetzung der griechischen Naturwissenschaften gemeinsam mit ihrer arabischen Weiterentwicklung die wissenschaftliche Revolution erst einleiteten. Die Diskursivierung des ‚Neuen‘ lasse sich oftmals im Umgang mit antiken Texten beobachten. So tarne der italienische Arzt und Botaniker Pietro Andrea Mattioli (1501-1577) neue Erkenntnisse im Bereich der Pflanzenkunde als Kommentar zu der griechischen Materia medica des Dioskorides aus dem ersten nachchristlichen Jahrhundert. Auch über die Lehrdichtung hinaus würden antike Gattungen und Formen in der Frühen Neuzeit für die Wissensvermittlung instrumentalisiert. Zu diesen Gattungen zähle zum einen der Dialog, der in besonderen Maße geeignet sei, den Prozess der Wissensentstehung abzubilden. Aphorismen, die einem Teil der hippokratischen Schriften nachempfunden seien, bestächen durch Kürze und einen autoritären Gestus, den sich unter anderem Carl von Linné in seinen Fundamenta Botanica zu eigen mache. Die Werke eines Theophrast oder Plinius des Älteren hingegen beeinflussten Texte, die unter dem Titel der Historia liefen. Grundsätzlich ließen sich Titel frühneuzeitlicher Wissenschaftsliteratur wie Enchiridion, Institutio oder De-Titel sowohl auf Traditionen der Antike zurückführen als auch auf solche des Mittelalters wie z. B. der Sacrobosco entlehnte Titel Sphaera. Jenseits konkreter Werke macht sich das Alte laut Korenjak in der Aufnahme von Motiven der antiken Literatur im modernen Wissenschaftsdiskurs bemerkbar. So erführen Wissenschaftler wie Newton in der frühneuzeitlichen wissenschaftlichen Literatur oftmals eine Lukrezens Epikur nachempfundene heroische Überhöhung. Im Allgemeinen deute schon allein der Gebrauch des Lateinischen als wichtigster Sprache der wissenschaftlichen Revolution darauf hin, dass sich das Neue in den Naturwissenschaften erst auf der Basis von und in Auseinandersetzung mit dem Alten habe entwickeln können.

Zu Martin Korenjaks wertvollem Überblick über die lateinische Wissenschaftsliteratur der Frühen Neuzeit konnten Bernd Roling und Ramunė Markevičiūtė ihre aus der Projektarbeit stammenden Erkenntnisse zu den außerliterarischen Einflüssen auf die literarische Vertextungstradition beisteuern (vgl. Roling/Markevičiūtė 2019). Nur zu oft geselle sich zur Wissensvermittlung in Versen und der damit verbundenen Aufwertung des Gegenstandes oder der Heroisierung der Gelehrten durch die poetische Form das soziale Kapital, das die Lehrdichtung der Institution verschafft habe, in der sie entstehen konnte; auch in diesem sozialen Kapital müsse sich im Vergleich zur Prosa daher der Mehrwert der Dichtung bemessen. Ähnlich wie die weitverbreiteten Akademie-Reden des 18. Jahrhunderts, deren Aufgabe sich nicht in der Vermittlung von Wissen erschöpfe, sondern welche die Akademie als Verbund erst sichtbar werden ließen, würden Lehrgedichte in vielen Fällen im öffentlichen Raum zelebriert. Die Mitglieder der Royal Society, um nur ein Beispiel zu nennen, feierten in ihren zahlreichen an Lukrez und Vergil orientierten Poemen, die Joseph Addison in seinen Musae Anglicanae versammelt habe, nicht nur die Luftpumpe, die Newtonsche Gravitationstheorie oder eine neue Erklärung des Nordlichtes, sondern sie feierten und legitimierten sich in Gedichtform selbst als Institution. Gedichte besäßen hier also eine unmittelbare identitätsstiftende Funktion, die über die Vermittlung von Realien noch hinausgehe. Sie sicherten den neuen technischen Objekten, den Entdeckungen und Theorien durch die Einbindung in das Formularium der klassischen Tradition einen Platz im sozialen Gefüge, erfüllten diese Aufgabe aber auch für das Gelehrtenkollektiv, das diese Objekte erst hervorgebracht habe.

Eine ähnliche Aufgabe, so das Teilprojekt, konnte das Lehrgedicht auch in Kontexten außerhalb des Universitätsmilieus erfüllen. Hilfreich sei hier ein Blick in die Volkssprache. Wenn John Philips im Gefolge der Georgica zu Beginn des 18. Jahrhunderts die Herstellung von Apfelwein schildere, leiste er damit mehr als nur die versifizierte Darstellung neuer Keltertechniken. Sein Cider mutiere zum Identifikationsobjekt einer wiedererstarkten Nation, um nicht zu sagen zum goldenen Treibstoff nationaler Größe. Das neue England selbst artikuliere sich im Medium des Apfelweins, der den alten Wein der Antike weit übertreffe. Über diesen Gegenstand zu dichten, bedeute, dem eigenen Verbund Raum im öffentlichen Diskurs zu verschaffen. Die vielen vergilianisch inspirierten Lehrgedichte, die in Frankreich oder Italien über den Anbau von Erdbeeren, die Kultivierung von Olivenhainen, die Anlage von Hanfplantagen oder zur Gemsenjagd in den Alpen verfasst worden seien, vermittelten Wissen, aber sie leisteten noch mehr. Wie ein Emblem verdichteten sie über die geschilderten Praktiken, über Erkenntnisse und Gegenstände eine Region, eine Landschaft, ja ein ganzes Volk, das sich hinter dem Inhalt des Gedichtes verberge, sich mit dem geschilderten Gegenstand identifiziere und von seiner Dignität profitiere. Waren, so fragte das Teilprojekt, die mit vergilianischem Furor geschilderten Olivenhaine des Südens nicht ein Zeugnis für die Fähigkeit der italienischen Agrararistokratie, noch immer an der Größe des augusteischen Imperiums zu partizipieren? Vermittelnde und identitätsstiftende Funktion griffen ineinander. Ein scheinbar marginales Beispiel könne diese besondere Rolle der Lehrdichtung illustrieren: Im Jahre 1738 habe der niedersächsische Antiquar Caspar Abel seine Sassine verfasst, ein niederdeutsches Poem, dessen Hauptzweck es gewesen sei, der niederdeutschen Sprache apologetisch eine Stellung als Wissenschaftssprache zu verschaffen und sie damit, so Abel, wieder in ihr altes Recht zu setzen. Abel habe geglaubt, sein Ziel mit einem Amalgam aus Epos und Lehrgedicht zu erreichen, und das aschenbrödelhafte Schicksal der Sassine, der personifizierten niederdeutschen Sprache ebenso geschildert, wie er durch die Verwendung des scheinbar vernachlässigten und verfolgten Idioms dessen poetische Kraft unter Beweis stelle. Das bloße Vorhandensein des Gedichtes dokumentiere bereits seinen Gegenstand und auch seine Sprechergemeinschaft. Abels Gedicht zeige damit gut, welche Doppelfunktion didaktische Poesie besitzen konnte; es unterrichte seine Leser über die Geschichte des Niederdeutschen, seine Orthographie und die Notwendigkeit einer Sprachreform; zugleich aber verschaffe es dieser Sprache und ihren Sprechern im Medium des Lehrgedichtes einen Platz in der Bildungslandschaft des 18. Jahrhunderts. Die Didaxe falle mit der konstituierenden Funktion, die das Gedicht für die Zielgruppe besaß, zusammen.

Bei dieser Art der regio-sozialen Vereinnahmung des poetischen Gegenstandes und dem Fokus auf Identitätsbildung durch das Lehrgedicht kann es, wie das Teilprojekt abschließend festhält, passieren, dass der dem wissenschaftlichen Lehrgedicht zugesprochenen Novationsantrieb unterlaufen wird. Das Lehrgedicht zielt dann in erster Linie nicht auf die Vermittlung eines Wissens, das dem neusten wissenschaftlichen Stand entspricht, sondern der Verortung des jeweiligen Gegenstandes in einem gesellschaftlichen System, dessen von Interessen geleitete Formung erst durch den Text vorgenommen werden soll. Thomas Bernard Fellon etwa behandelt in den Magnes (1696) nicht einfach den Magnetismus, noch weniger bezieht er sich dabei auf die aktuellsten Forschungsbeiträge, vielmehr beschreibt er die Ausstellungsstücke im Magnetenkabinett Louis de Pugets, der zusammen mit Fellon zu den ersten Mitgliedern der neu gegründeten Akademie in Lyon gehörte, deren Ruf es nun zu formieren und verbreiten galt. Das Magnetenzimmer des in Lyon geborenen Puget schien dafür mehr als geeignet. Gilt das Augenmerk zur Erforschung der Phänomene der wissenschaftlichen Revolution den Texten als deren Trägern, so muss man feststellen, dass sie Erwartungen an einen fortschrittsteleologischen Diskurs, wie ihn ein einseitiges Moderneverständnis suggeriert, nicht erfüllen. Dieser Umstand kann für die Auseinandersetzung mit frühneuzeitlicher Lehrdichtung jedoch nur von Vorteil sein, denn er zwingt zu einer relativierenden Haltung gegenüber dem Begriff der ‚wissenschaftlichen Revolution‘, die nicht als abrupte Ablösung eines Wissenschaftssystems durch ein anderes verstanden werden kann. Vielmehr birgt diese Ablösung einen Prozesscharakter, bei dem es zu Überlagerungen, oxymoronischen Gegenüberstellungen und Versöhnungsversuchen kommen kann, die aus einer purifizierenden modernen Perspektive hybrid erscheinen mögen.

 

TP 08: „Sur des pensers nouveaux faisons des vers antiques. Zum Verhältnis von Aufklärung und Klassizismus in der französischen und italienischen Literatur des 18. Jahrhunderts“

Statement: Gideon Stiening (Ludwig-Maximilians-Universität München)

Response: Klaus W. Hempfer/Roman Kuhn (Freie Universität Berlin)

Einem ähnlichen Phänomen von komplexen ‚alt‘-,neu‘-Relationen begegnet man in der französischen Literatur des 18. Jahrhunderts im Hinblick auf das Verhältnis von ‚Aufklärung‘ und ‚Klassizismus‘, dem sich Klaus Hempfer und Roman Kuhn im Teilprojekt 08 widmen. Im Unterschied zu TP 06 konzentriert sich das TP 08 auf volkssprachliche Texte in Frankreich und ab dem 5. Förderjahr auch in Italien. In beiden Teilprojekten stehen also ‚alt‘-‚neu‘-Relationen in Bezug auf das Verhältnis außerliterarischer Wissenskonfigurationen zu literarischen Diskursivierungsstrategien im Zentrum der Untersuchung. Die Bearbeitung unterschiedlicher diachroner und diatoper Konfigurationen ermöglicht dabei zugleich, die in den Teilprojekten jeweils untersuchten ‚alt‘-‚neu‘-Relationen räumlich und zeitlich zu spezifizieren und solchermaßen wechselseitig zu präzisieren.

Dass das Teilprojekt mit Gideon Stiening einen Experten zur deutschsprachigen Aufklärung eingeladen hatte, steht ebenfalls im Zusammenhang mit der Frage nach diatop unterschiedlichen Ausprägungen von ‚alt‘-‚neu‘-Relationen – hier im Speziellen der Frage nach unterschiedlichen nationalen Ausprägungen von ‚Aufklärung‘ und deren jeweiligen Verhältnis zu (ebenfalls unterschiedlich ausgeprägten) ‚Klassizismen‘. Gideon Stiening, ausgewiesener Experte zur deutschsprachigen Aufklärung, ist, neben vielen anderen Herausgeber- und Publikationstätigkeiten, Mitherausgeber des Interdisziplinäres Jahrbuchs zur Erforschung des 18. Jahrhunderts. Er hat in unterschiedlichsten Zusammenhängen zu den bekannteren und unbekannteren Figuren der Aufklärung publiziert, von Spinoza über Kant, Wieland und Lessing bis zu Sulzer, Platner, Michael Hißmann und Johann Nikolaus Tetens. Dabei verbindet er immer wieder epistemologische und wissensgeschichtliche Fragestellungen mit literarhistorischen – ein Anliegen, das auch das Teilprojekt verfolgt.

Grundlegend für die Konzeption der theoretischen Arbeit des TP 08 ist die epochentheoretische Voraussetzung, dass zwischen Epochenkonstrukten und Zeiträumen zu unterscheiden ist und dass ein und derselbe Zeitraum durch unterschiedliche Epochenkonstrukte auf der Basis unterschiedlicher Kriterien beschrieben werden kann.

Dieser epochentheoretische Ansatz wurde von Gideon Stiening als tragfähig und fruchtbar eingestuft genauso wie dessen Konkretisierung über die Analyse der Interdependenz von Aufklärung und Klassizismus. Aufgegeben werden solchermaßen Homogenitätsannahmen unterschiedlichster theoretischer Provenienz, die gegenteilige Befunde noch immer nihilieren, indem sie Kontinuitätsannahmen über zwei Jahrhunderte hinweg postulieren (paradigmatisch Foucaults ‚klassische Episteme‘). Vergleichbare Homogenitätsannahmen legen ihrerseits auch Ansätze zugrunde, die zwar einen ideengeschichtlichen Wandel konstatieren, von diesem ausgehend aber gleichzeitig einen synchronen Wandel des literarischen Systems postulieren. TP 08 versucht, solchen Apriorismen zu entgehen, indem ‚Aufklärung‘ als ideengeschichtliches und ‚Klassizismus‘ als ästhetisches Epochenkonstrukt gefasst und deren Relationierbarkeit neu bestimmt wird.

Von hier aus ergibt sich auch, dass es dem Teilprojekt ausschließlich um ‚Aufklärung‘ als historischen Epochenbegriff und nicht um einen transhistorischen ‚Projektbegriff‘ geht. Das Teilprojekt wird das Petitum Stienings aufgreifen, diese implizit vorausgesetzte Unterscheidung explizit zu machen, und es wird an geeigneter Stelle darauf hinweisen, dass es selbstverständlich um einen ideengeschichtlichen Zugang geht, um aufklärerische Ideen, die auch wenn sie realgeschichtlich unverwirklicht blieben, Eingang ins Literarische gefunden haben – mitunter (aber nicht ausschließlich) in klassizistischer Form.

Den Ansatz, das Epochenkonstrukt ‚Aufklärung‘ im Anschluss an Cassirers ‚Denkformen‘ dezidiert epistemologisch zu fassen, hielt Gideon Stiening für tragfähig, merkte jedoch an, dass der innovative Charakter aufklärerischen Denkens durchaus noch pointierter herausgearbeitet werden könnte, etwa hinsichtlich einer nicht nur „vertiefte[n] Kenntnis der Natur durch neuzeitliche Wissenschaften“ (Hempfer 2016: 235), sondern einer „qualitative[n] Veränderung“ (Stiening 2019: 2). Das Teilprojekt wird dies bei der systematischen Aufarbeitung zentraler Quellentexte berücksichtigen. Zurückhaltend äußerte sich Stiening hinsichtlich der Anschließbarkeit der Überlegungen des Teilprojekts an Fleck, doch könnte sich dessen Verbindung von ‚Denkstil‘ und ‚Denkkollektiv‘ in der Weiterführung durch die laboratory studies (Latour/Woolgar 1979, Knorr-Cetina 22002 u.a.) für eine historisch differentielle Bestimmung des Denkens der philosophes als fruchtbar erweisen. Dem Teilprojekt geht es also weniger um eine Einbeziehung des Fleck’schen erkenntnistheoretischen Skeptizismus, wie Stiening befürchtete, sondern eher um eine Berücksichtigung der Tatsache, dass es Teil der Aufklärung, wie sie vom Teilprojekt konturiert wird, ist, dass nicht einfach nur von einem Kreis von Spezialist*innen und Wissenschaftler*innen Veränderungen im Wissenschaftssystem herbeigeführt werden, sondern dass diese Veränderungen und deren Ergebnisse und Implikationen von einer größeren Gruppe von Personen, die nur teilweise in die (mit Fleck) ‚esoterischen‘ Fachkreise involviert sind, verbreitet werden – sei es in Formen, die sich als ‚Vulgarisierung‘ beschreiben ließen, sei es in Formen, die sich klassizistischer Muster bedienen und damit vielleicht eher als ‚Ästhetisierung‘ und ‚Nobilitierung‘ wissenschaftlicher Erkenntnis zu beschreiben wären.

Wenn Stiening eine epistemologische Fundierung von Aufklärung im Anschluss an Cassirer für „ausnehmend fruchtbar“ (Stiening 2019: 8) erachtete, dann merkte er auch zurecht an, dass diese Denkform „nicht mit beliebigen Inhalten zu füllen“ (ebd.) sei, dass also verstärkt nach Korrelationen von ‚Denkform‘ und ‚Inhalten‘ zu fragen sei, wobei sich über eine Spezifizierung dieser Korrelationen ggf. diatop unterschiedliche ‚Aufklärungen‘ ausdifferenzieren ließen, die gleichwohl über einen gemeinsamen ‚Kern‘ verfügen müssten, der es allererst erlaubte, von ‚Aufklärung‘ zu sprechen. Dieser Aspekt wird das Teilprojekt insbesondere bei der Einbeziehung der italienischen Gegebenheiten im 5. und 6. Förderjahr beschäftigen.

Die für die Forschungsgruppe insgesamt konstitutive Relation von ,alt‘ und ,neu‘ wird in TP 08 mittels der Epochenkonstrukte ‚Klassizismus‘ und ‚Aufklärung‘ aufgenommen. Dabei geht es zentral um den Nachweis, dass die im Zitat des Projekttitels noch Ende des Jahrhunderts als Norm formulierte Verbindung von ideengeschichtlich Neuem („pensers nouveaux“) und literarisch Altem („vers antiques“) einen wesentlichen Teil der literarischen Produktion der Zeit charakterisiert, dass apriorisch also gerade nicht von einer Opposition von ‚Aufklärung‘ und ‚Klassizismus‘ auszugehen ist.

Natürlich gibt es insbesondere in den poetologisch nicht kodifizierten Genera wie dem Roman nichtklassizistische Aufklärungsliteratur – wie es umgekehrt klassizistische Literatur gibt, die sich in keiner Weise als ‚aufklärerisch‘ begreifen lässt. Gleichwohl ist festzuhalten, dass die Diskursivierung aufklärerischer Ideen in weit stärkerem Maße über eine klassizistische Formensprache erfolgt, als dies in der Forschung noch immer angenommen wird. Stiening hält deshalb die Korrelation von ‚Aufklärung‘ und ‚Klassizismus‘ „in innovationstheoretischer Hinsicht für ausnehmend fruchtbar [...], sodass eine ebenso anschauliche wie differenzierte Betrachtung von Fragen des Verhältnisses von Altem und Neuem gelingen dürfte“ (Stiening 2019: 5). Entscheidend ist dabei, dass das ‚Alte‘ (bzw. einige Aspekte des ‚Alten‘) eben nicht als das ‚Überholte‘, sondern als das überzeitlich Gültige verstanden wurde, eine Gedankenfigur, die ihrerseits notwendiges Ingredienz von ‚Klassizismus‘ ist. Auch dies ist für Stiening „ein gewichtiger Hinweis“ (Stiening 2019: 3), der sich, wie sich in der Untersuchung immer deutlicher zeigt, an einer Fülle von Texten belegen lässt bis hinein in die Encyclopédie, in der prototypische Aufklärer genuin klassizistische Positionen vertreten (z.B. die Stil- und Gattungstrennung in Voltaires Artikel genre de style), oder explizit am Beispiel von Aristoteles die Überholtheit von dessen Physik und die weitere Gültigkeit von dessen Rhetorik (wiederum Voltaire im Artikel esprit) thematisieren. Anhand einer für die poetologische und ästhetische Diskussion des 18. Jahrhunderts so zentralen Kategorie wie der des goût lässt sich im Einzelnen zeigen, wie eine differenzierte Sortierung und Bewertung von ‚Altem‘ erfolgt, indem es die Kategorie einerseits explizit erlaubt, einen Wandel im Geschmack der Zeit anzunehmen, während zugleich die als grundlegend und rational begründbar postulierten Kunstregeln (wie etwa die der Einheit der Handlung in Bezug auf das Epos) als überzeitlich gültig ausgewiesen werden und vom ‚bloßen Geschmacksurteil‘ unterschieden werden. Dass mit der Kategorie des goût ein gewisser (freilich klar umgrenzter) Relativismus in die ästhetische Diskussion Eingang findet, heißt nun darüber hinaus allerdings nicht, dass auch die Stilideale, die in der Dichtung des 17. Jahrhunderts identifiziert werden, zur Disposition gestellt würden – im Gegenteil: Es ist dies der Geschmack, an dem man sich orientieren müsse, den man nicht überbieten könne, wie kein anderer als d’Alembert im Discours préliminaire zur Encyclopédie formuliert: „il ne reste à la génération suivante que d’imiter: mais elle ne se contente pas de ce partage; […] elle veut ajoûter à ce qu’elle a reçû, & manque le but en cherchant à le passer.“

Von hieraus dürfte sich dann auch eine wesentlich veränderte Sicht auf die Querelle ergeben, in der die Anciens wohl nicht einfach mit den ‚Klassizisten‘ und die Modernes mit den ‚Antiklassizisten‘ identifiziert werden dürfen. Vielmehr kritisieren die Modernes die Anciens auf der Basis klassizistischer Normen, die von den großen Autoren des siècle de Louis XIV besser erfüllt werden als von antiken Autoren, was gleichwohl die überzeitliche Gültigkeit fundierender Prinzipien des Klassizismus präsupponiert wie etwa der Stil- und Gattungstrennung als notwendiger Konsequenz des aptum oder der Koppelung von imitatio naturae an die imitatio auctorum über ‚Musterautoren‘, die immer schon eine belle nature zur Darstellung gebracht haben (besonders explizit formuliert bei Batteux) usw.

Wenn es richtig ist, dass die Opposition von Anciens vs. Modernes nicht mit derjenigen von Klassizisten vs. Antiklassizisten identisch ist, dann lassen sich eine Reihe literarhistorischer Paradoxien auflösen wie etwa die ‚selbstverständliche Voraussetzung‘, dass ein Vertreter der Modernes kein Klassizist und ein Klassizist kein Aufklärer sein kann, die noch immer auch und gerade, aber nicht nur in der Voltaire-Forschung zu finden sind. Dass sogar Diderot neben seinem ‚avantgardistischen‘ Jacques le fataliste auch eine pindarische Ode („Les Eleuthéromanes“ [1772]) verfasst hat, der er ein Horaz-Zitat voranstellt („Pindarum quisquis studet aemulari [...]“, carm. IV, 2), wird selbst von der ‚zünftigen‘ Diderot-Forschung weitgehend ignoriert (vgl. dagegen Smoliarova 2018). Die Beispiele ließen sich beliebig vermehren.

Auch wenn Gideon Stiening der durch das Teilprojekt vorgenommenen Relationierung von ‚Aufklärung‘ und ‚Klassizismus‘ durchaus etwas abgewinnen konnte, sah er deren nähere Charakterisierung als ‚Hybridisierung‘ eher skeptisch. In der internen Diskussion der Forschungsgruppe wurde sowohl das Latour’sche Konzept wie das postkoloniale einer kritischen Reflexion unterzogen, die mit einem Workshop zur Differenzierung von ‚Amalgamierung‘ und ‚Hybridität‘ in der zweiten Förderphase fortgesetzt werden soll. Grundlegend für weitere Überlegungen im Verbund wird dabei sein, zwischen dem zeitgenössischen Selbstverständnis und der historisch-theoretischen (Re‑)Konstruktion zu unterscheiden: Aufgrund der Tatsache, dass die Normen des Klassizismus nicht einfach als ‚antik‘, sondern als ‚überzeitlich‘ begriffen wurden, war die Verbindung von ‚Aufklärung‘ und ‚Klassizismus‘ auch avant la lettre überhaupt nicht als Verbindung von Divergentem zu begreifen, sondern konnte ganz im Gegenteil als positive Norm postuliert werden. Auf aposteriorisch-theoretischer Ebene scheint ‚Hybridität‘ als Verbindung von Elementen mit unterschiedlichen zeitlichen Indizes tragfähig, weil sich solchermaßen die epochentheoretische Leerform der multiple temporalities historisch ausdifferenzieren lässt. Das Spezifische eines zentralen Teils der Literatur des 18. Jahrhunderts wäre dann wesentlich darin begründet, dass sie eine Hybridität konstituiert, die sie selbst nicht als solche theoretisiert, sondern allenfalls (siehe den titelgebenden Chénier-Vers) als Forderung aufstellen kann.

Unsere Verwendung des Begriffs der ‚Hybridität‘ oder ‚Hybridisierung‘ verweist in diesem Zusammenhang auch darauf, dass die Verbindung von aufklärerischer Epistemologie und klassizistischer Poetologie insofern ein Problem (oder jedenfalls eine Schwierigkeit) für die epochentheoretische These des Projekts darstellt, als die zeitlichen Indizes eben nicht synchronisierbar sind und sich Veränderungen in der Epistemologie nicht parallel auf Novationen im literarischen Bereich abbilden lassen. Das von Gideon Stiening angeführte Beispiel des Briefromans (vgl. auch Stiening 2012), bei dem sich eine epistemologische „Aufwertung der Erkenntnisleistungen des Subjekts“ (Stiening 2019: 6) unmittelbar in der Gattungsentwicklung niederschlägt, wäre ein Beispiel für eine weitgehende Synchronizität von Epistemologie und Gattungsentwicklung. In den vom Teilprojekt angeführten Beispielen ging es demgegenüber genau darum, zu überprüfen, wie Neuerungen in Bestehendes eingefügt werden können, ohne dass es zu derartigen unmittelbaren Überschneidungs- und Synchronizitätseffekten kommt. In diesem – bescheidenen – Sinn, scheint es dem Teilprojekt wie dem Verbund vorläufig sinnvoll, am Begriff der ‚Hybridität‘ festzuhalten – und sei es nur, um damit zu betonen, dass hier eine „Korrelation von ideen- und realgeschichtlichen Kontextualisierungen“ (Stiening 2019: 7) sehr viel schwieriger zu leisten ist, weil sich die Elemente eben nicht wechselseitig bestärken und begründen.

 


Arbeitsfeld 3: Historische Konstruktionen des Vergangenen und ihre Zurichtung auf Entwürfe des Gegenwärtigen

Das dritte Arbeitsfeld der Forschungsgruppe, „Historische Konstruktionen des Vergangenen und ihre Zurichtung auf Entwürfe des Gegenwärtigen“ (2. Förderphase: „Konstruktionen des Vergangenen und ihre Zurichtung auf Entwürfe des Gegenwärtigen in Texten und Bildern“) befasst sich zentral mit der Frage, wie Dichtung und Bildende Kunst durch ästhetische Mittel und gezielte Hybridisierungen von Traditionssträngen teleologische Entwürfe der Literatur- und Kunstgeschichte strategisch unterlaufen.

 

TP 02: „Troynovant Revisited. Strategische Hybridisierungen in den konkurrierenden Antikentraditionen der englischen Literatur zwischen ca. 1380 und 1680“

Statement: Ananya Jahanara Kabir (King’s College London)

Response: Andrew James Johnston/Wolfram Keller/Margitta Rouse (Freie Universität Berlin)

Für das Spätmittelalter wie für die Frühe Neuzeit stellte die Antike einen scheinbar verbindlichen literarischen Kanon und verbindliche Modelle zur kulturellen Selbstreflexion zur Verfügung. Nirgends wird das so deutlich wie im Umgang mit dem Troja-Stoff, der vom zwölften bis ins achtzehnte Jahrhundert den wichtigsten Stoff der europäischen Literaturtradition darstellte. Von Anfang an aber lag dieser Stoff in verschiedensten Traditionssträngen vor, die sich immer wieder miteinander vermischten und voneinander abgrenzten. Aus dieser Flut immer neuer Formen, die Elemente der trojanischen Tradition kombinieren und je anders bearbeiten, ging eine Vielfalt von ,alt‘-,neu‘-Dichotomisierungen hervor; diese sind der zentrale Untersuchungsgegenstand des Teilprojekts 02 „Troynovant Revisited. Strategische Hybridisierungen in den konkurrierenden Antikentraditionen der englischen Literatur zwischen ca. 1380 und 1680“. Dabei hat sich die enorme Vielfalt der ‚alt‘-/‚neu‘-Purifikationen und ‚alt‘-/‚neu‘-Hybridisierungen der trojanischen Stofftradition gezeigt. Diese Vielfalt lässt sich nicht über eine schlichte Unterscheidung von Mittelalter und Früher Neuzeit fassen, sondern problematisiert selbst immer schon Fragen des Epochenbruchs und der Epochisierung und macht sie spätestens seit Chaucers House of Fame zur Basis komplexer poetologischer Reflexionen. Im Zentrum des ersten Förderzeitraums stand die Frage, wie Konzeptualisierungen von ‚Neuem‘ im Gewande des ‚Alten‘ diskursive und ästhetische ‚Spielräume‘ eröffnen. Es kamen solche diskursiven Räume in den Blick, in denen spezifisch literarische Strategien der historischen Sinnstiftung und poetologische Entwürfe besonders eindrucksvoll erprobt werden, Strategien, die in vielschichtiger Interaktion auf eine komplexe Gemengelage verschiedener, sich auf die Antike berufende Traditionsstränge antworten. Drei Bereiche, die sich an den diversen Strängen der Troja-Rezeption in der englischen Literatur des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit orientieren, ließen sich folgendermaßen differenzieren:

a)    Troja-Episoden, d.h. Troja-Texte, die Episoden aus dem Kontext der antiken und/oder mittelalterlichen Troja-Geschichte wiedererzählen, etwa die Vita des Aeneas oder die Liebesgeschichte von Troilus und Briseida;

b)    die ‚Guido‘-Tradition, d.h. Übersetzungen bzw. Adaptationen der zwei wirkmächtigsten mittelalterlichen Troja-Texte, Benoît de Sainte-Maures Roman de Troie (ca. 1155-1160) und dessen stark gekürzte lateinische Übersetzung Historia destructionis Troiae (1287) des sizilianischen Gelehrten Guido delle Colonne;

c)    Troja-Allusionen, d.h. mittelalterliche und frühneuzeitliche englischsprachige Texte, die nicht primär die Troja-Geschichte oder einzelne Troja-Episoden fokussieren, in denen aber Troja-Anspielungen und -Rahmungen als poetologische Chiffren aufscheinen.

Für alle drei Bereiche wurde Geoffrey Chaucers House of Fame zum Schlüsseltext für die Analysen des Teilprojekts; nicht zuletzt, weil dieses Traumgedicht von der Forschung bisher selten als Troja-Text diskutiert worden ist, und das, obwohl es anhand des Troja-Stoffs ein weithin wirksames poetologisches Programm entwickelt. Das Gedicht, das eine Reise des Erzählers durch die drei Ventrikel (s)eines Hirns (Imagination – Logik – Gedächtnis) erzählt, befasst sich zentral mit der Wahrnehmung und mentalen Verarbeitung neuer Bilder am Beispiel der Dido-Episode aus der Aeneis. Es handelt sich hierbei um eine nivellierende Verschränkung der unterschiedlichen, ovidischen und vergilischen Bewertungen der Dido, was implizit die Autorität tradierter Wissensbestände problematisiert und zu deren weiteren Destabilisierung führt. Dies zeigt sich u.a. in einer Darstellung der Troja-Autoritäten als Statuen, die zunächst geordnet wirkt. Der Erzähler bemerkt, dass offenbar Neid zwischen den Autoritäten herrscht; es klingt ein historiographischer Relativismus an, der sich in einer abschließenden Darstellung der Gedächtniskunst im Prozess des Dichtens voll entfaltet. Die Traumvision endet nicht, wie in Traumvisionen des ‚hohen‘ Mittelalters üblich (Lynch 1988), mit der ‚Harmonisierung‘ des mentalen Haushalts, sondern mit der Autorisierung eines poetischen Modells – und zwar bereits auf der Ebene der poetischen Praxis. Ins Zentrum rückt ein strategisch-kreativer Umgang mit konfligierenden Formen des ‚Traditionellen‘. Das Projekt fasst diesen mit Latours Begriffen der ‚Purifikation‘ und ‚Hybridisierung‘ (Latour 1997: bes. 60-63; Huss 2016: 7; Nelting 2017). Das House of Fame selbst bezeichnet historische und poetische Texte als immer schon hybrid bzw. vermischt. Aus ihren Kontexten gelöst, werden Elemente von Geschichten ‚purifiziert‘, etwa als ovidisch/vergilisch, wahr/falsch usw., um sodann zu neuen Geschichten hybridisiert zu werden (Keller 2017, 2018b, 2019a; Rouse 2018; Keller/Rouse 2019). Diese poetologische Verhandlung der Purifikation und Hybridisierung multipler Zeitlichkeiten, die das House of Fame mit der Transformation philosophisch-psychologischer und ökonomischer Diskurse engführt, verdichtet sich zu einem poetischen Programm, das Chaucer später in Troilus and Criseyde umfassend exemplifiziert: Traditionen und mit ihnen verbundene Zeitlichkeiten, die nur scheinbar homogen sind, werden dort in komplexer, novellierender Form miteinander verschränkt, um sie poetologisch und novatorisch aufzuladen. Die Figur Criseydes ist dafür zentral, denn wie auch der Erzähler hat sie nicht nur Zugriff auf Vergangenheit und Gegenwart, sondern auch auf ihre eigene literarische Zukunft: Sie bewegt sich in verschiedenen, den Horizont der Erzählung weit überschreitenden Zeitlichkeiten (Johnston 2017; Keller 2016, 2018a).

Chaucers wirkmächtiger Text räumt seiner Protagonistin dabei einen erheblichen Reflexionsspielraum über die Zeitlichkeiten von Lektüreprozessen und Interpretationshaltungen einerseits und deren novatorisches Potenzial andererseits ein. Chaucers Troilus wird daher in der zweiten Förderperiode eine modellhafte Rolle für das Problem der Verknüpfung von Gattungen und Zeitlichkeiten – u.a. auch in geschlechtertheoretischer Hinsicht – spielen. In der Tat ist Chaucers Troilus der spätmittelalterliche Troja-Text, der wegen seiner obsessiven Verwendung verschiedener Gattungssignaturen in generischer Hinsicht am meisten diskutiert wird. Der Überblick über die vorgenommenen Gattungszuordnungen in einem der wichtigsten Handbücher verzeichnet fast alle zeitgenössischen Gattungsbezeichnungen, die auf der Ebene der poetischen Praxis aufscheinen oder aus der Beobachterperspektive an das Werk herangetragen worden sind (Windeatt 1991). Dass Troilus strategisch mit Gattungssignaturen spielt, zeigt sich eindrücklich an der in der Forschung debattierten Frage, welchen Status Criseydes Lektüre der thebanischen Stofftradition hat. Es ist kontrovers diskutiert worden, welche der vorhandenen Thebais-Versionen bzw. -Bearbeitungen sie liest (lateinisches Epos vs. altfranzösischer Roman) und welcher Kenntnisstand über ihre eigene Zukunft sich daraus ableiten lässt. Dies hat die Forschung bislang eher positivistisch-quellenbezogen diskutiert und weniger bezüglich der Performanz der dialogischen Situation zwischen Criseyde und ihrem Onkel und der damit einhergehenden geschlechtertheoretischen Problematisierung der diversen Gattungen, auf die angespielt wird (siehe hierzu aber Johnston 2016, 2017). Männliches und weibliches Lesen werden hier zunächst in einen purifizierenden Gegensatz gebracht, der dann über die gezielte Ausstellung weiblicher Lesekompetenz wieder unterlaufen wird. Ein kritischer, sich selbst problematisierender Leseprozess erweist sich als selbstbewusster weiblicher Umgang mit der Tradition, der jenseits konventionalisierter Verknüpfungen von Gattungen und Zeitlichkeiten eine weibliche Autorität über die Konstruktion von Temporalitäten beansprucht.

Eines der vom Projekt untersuchten Beispiele, in denen das Chaucersche Modell poetischer Novation wiederum neu verhandelt – und scheinbar hinterfragt – wird, ist Robert Henrysons mittelschottisches Gedicht The Testament of Cresseid (ca. 1475). Henryson geht es in temporaler Hinsicht vor allem darum, Chaucers poetologische Unordnung wieder zu ordnen. Immer wieder thematisiert der Gedichtanfang die zeitliche Verankerung seiner (fiktionalen) Entstehung: Lebenszeit, Jahreszeit und Tageszeit werden detailliert beschrieben. Aber sobald der Erzähler seine Geschichte (auto)biographisch kontextualisiert, lösen sich die zeitlichen Purifikationen auf. Zeitliche Ebenen verschwimmen, da er seine Alterskälte mit einer Geschichte junger Liebe lindern möchte, ihm dies mit Chaucers allzu bekanntem Troilus aber nicht gelingt. Daher wendet er sich einem anderen Buch zu. Des Erzählers Unfähigkeit, einer Zeit und einer Quelle ‚treu‘ zu bleiben und zwischen unterschiedlichen Zeiten und Bewertungen zu differenzieren, wird bereits dadurch angedeutet, dass er Chaucers Roman nicht etwa fortsetzt, sondern die Handlung seines Gedichts genau zwischen den Versen 5.1804 und 5.1805 von Chaucers Troilus ansiedelt (Storm 1993). Somit führt die Erzählerfigur genau die Position vor, gegen die sie vermeintlich anschreibt, nämlich Chaucers auktoriales Modell von Novation als temporaler Purifikation und Hybridisierung verschiedener Antikenkonzeptionen bzw. Temporalitäten.

Das in Chaucers Troja-Werken explizit theoretisierte und zugleich auf der Ebene der Handlung ausgestellte Modell literarischer Novation schreibt sich, so konnte das Projekt bereits nachweisen, auch in verschleierter Form in der Frühen Neuzeit fort (Keller 2016 sowie sein Vortrag auf der „Trojan Temporalities“-Tagung). Die neuere Forschung betont etwa, dass Shakespeare sich auf Lydgates Troy Book und Caxtons Recuyell bezogen habe (Cooper 2010; Kuskin 2013). Dennoch bildet die Figur der Cressida auch in Shakespeares Troilus and Cressida den poetologischen Referenzpunkt, da es der Protagonistin als einziger gelingt, sich in einer komplexen Welt multipler Zeitlichkeiten zurechtzufinden. Offenkundig wird dies in der Konstruktion scheinbar antagonistischer Temporalitäten, die den Trojanern und Griechen jeweils zugeschrieben werden, die aber in eine modernisierungsteleologische Relation eingepasst werden, wie sie auch andernorts anzutreffen ist (Johnston 2008, 2009; Keller 2011b, 2016, 2019b; Keller/Keller 2014; Rouse 2018 und Keller/Rouse 2019). Shakespeares Trojaner erscheinen als ‚alt‘, da sie Facetten einer höfisch-ritterlichen Kultur aufweisen, die als ‚mittelalterlich-überkommen‘ gekennzeichnet wird. Demgegenüber werden die siegreichen Griechen durch ihre rhetorisch-machiavellistischen Performanzleistungen (zu diesen siehe Whigham 1984; aber vgl. Strohm 2005) als ‚modern‘ ausgewiesen. Der Machttransfer von Troja zu Griechenland wird als fortschrittlicher Übergang von einer alten ‚mittelalterlichen‘ zu einer neuen ‚modernen‘ Welt inszeniert. Indem Shakespeare Troja mit der Dichtung assoziiert, die ‚neuen‘ Künste des Theaters und der rhetorischen Dissimulation aber den Griechen zuordnet, thematisiert er sein eigenes, auf literarische Novation ausgerichtetes Autorschaftsmodell (Keller 2016). Shakespeares Autorschaftsmodell vereinigt Dichtung und Theater in der Figur des Dichter-Dramatikers in Abgrenzung von sich primär als Dichtern inszenierenden Autoren (z.B. Spenser) odersolchen, die vor allem das auktoriale self-fashioning des Dramatikers favorisieren (z.B. Kyd, Heywood; siehe Cheney 2004, 2008). Wiederum wird durch die Figur der Cressida die Dichotomie ‚mittelalterlich‘ vs. ‚modern‘ dekonstruiert. In der Protagonistin werden divergierende Zeitregimes zusammengeführt und hybridisiert: das trojanische Mittelalter mit der griechischen Moderne. Die Figur zeigt sich versatil sowohl in trojanisch kodierter Dichtung als auch im griechisch zu verstehenden Theater. Durch Cressida wird eine poetologische Kontinuität zwischen mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Konzeptionen literarischer Novation gestiftet, die für gewöhnlich aufgrund der Inszenierung von Narrativen des Bruches im frühneuzeitlichen Theater nicht in den Blick gerät bzw. verschleiert wird. Shakespeare verknüpft die fortschrittsteleologische Bruch-Erzählung also zusätzlich mit einer gattungspoetischen Modernisierungsgeschichte. Diese Dimension von Epochisierung wird das Teilprojekt in der zweiten Förderperiode intensiver fokussieren, auch um sie im Hinblick auf Verfahren der literarischen Novation literarhistorisch zu kontextualisieren.

Das zweite Anliegen des Projekts war die Untersuchung hybrider trojanischer Temporalitäten in der Guido-Tradition. Als Nachfolger dieser Tradition muss sich John Lydgate wiederholt mit Chaucer auseinandersetzen (Lerer 1993; Watson 1994; Keller 2008; Meyer-Lee 2009), auch wenn es um die Übersetzung lateinischer Troja-Chroniken geht. Das Teilprojekt fragte, wie Lydgate Chaucers poetologisches Programm der Verschränkung verschiedener Temporalitäten und konkurrierender Antikenkonzeptionen aufgreift und für seine Werke novatorisch nutzt. Wie ein 2020 erscheinendes Working Paper zeigen wird (Keller 2020), implizieren Lydgates eigene Aussagen, dass ihm, ähnlich wie Henryson, zunächst daran gelegen scheint, die von Chaucer geschaffenen Freiräume wieder purifizierend einzuengen. Allerdings macht Lydgate in seinem poetologischen Traumgedicht The Temple of Glass durch eine Transformation der dem House of Fame entlehnten Ventrikel-Struktur deutlich, dass er nicht die völlige Einebnung von Chaucers poetologischem Chaos anstrebt. Auch Lydgates für das 15. und das 16. Jahrhundert zentrale Troy Book (1420), vorgeblich eine wortgetreue Übersetzung von Guido delle Colonnes Historia destructionis Troiae, setzt eine hybridisierende Poetik fort. Das poetische Programm des Troy Book kristallisiert sich heraus, wenn im dritten Buch jeweils die für die Guido-Tradition und für Chaucer zentralen Anliegen miteinander verschmelzen. Lydgate erzählt hier den Tod Hektors (nach Guido) und die Geschichte der Criseyde (Chaucer folgend). Hiermit hybridisiert er zunächst strikt voneinander getrennte Zeitlichkeiten – und repräsentiert sowohl in der Gestaltung von Hektors Grab wie auch in der Charakterisierung der Criseyde (und anderer Frauenfiguren im Troy Book; siehe hier Shutters 2001) das im Temple of Glass vorgestellte poetische Modell. Lydgates poetologische Positionierung deutet sich in der Beschreibung von Hektors Grab an, bzw. der überaus detailreichen Beschreibung des technischen Apparats, die der lebensgetreuen Konservierung des toten Hektors dient. Wie schon bei Guido und Benoît wird Hektor durch sein Grabmal sowohl als Statue als auch als einbalsamierter Körper verewigt und damit auf eine Weise verdoppelt, welche die ‚Reduplizierung‘ Trojas evoziert. Die neue Beschreibung des technischen Apparats zur Aufrechterhaltung eines lebendigen Eindrucks macht Hektors Körper zu einer poetologischen Projektionsfläche, durch die eine Kontinuität behauptet werden kann, die aber nicht durch Substanz gedeckt ist. Die Technik, die Hektor lebendig erscheinen lässt, korreliert über intertextuelle Anleihen auch mit der Darstellung des Wiederaufbaus des ersten Trojas (Strohm 2008); die poetologische Relevanz dieser Darstellung von Technik und Städtebau gilt es noch genauer aufzuarbeiten. Darüber hinaus ergeben sich weitere Analogien, beispielsweise mit der von Lydgate detailliert beschriebenen, vermeintlich im neuen Troja ‚erfundenen‘ (antiken) Gattung der Tragödie und deren Aufführungspraxis, die ebenso wie die Darstellung des Verhaltens der Frauenfiguren im Troy Book davon geprägt ist, eine nach außen transparent erscheinende Realität über sowohl architektonische als auch rhetorische Techniken herzustellen, wobei diese Techniken verschiedenen Zeitlichkeiten zugeordnet werden. Die im Troy Book stets betonte purifizierte zeitliche Differenz (beispielsweise zwischen Guido und Chaucer oder antiker Tragödie und zeitgenössischen dramatischen Inszenierungen, den sogenannten Mummings) fällt erzähltechnisch novatorisch in sich zusammen, während die Tradition zumindest dem Schein nach mithilfe derjenigen dissimulierenden Poetik aufrechterhalten werden kann, die Lydgate für seine poetische Novation adaptiert.

Auch in Lydgates Poetik verknüpfen sich also temporale und gattungspoetische Fragestellungen, die für die Troja-Übersetzungen in der nächsten Förderperiode genauer zu konturieren sind. Mit Blick auf den Diskurs zu multiplen Temporalitäten (vgl. Dinshaw 2007, 2012; Harris 2009 und West-Pavlov 2013) ist es für das weitere Vorgehen des Teilprojekts zentral, wie sich Texte auf der Ebene der poetischen Praxis und ihrer autoreflexiven Selbstthematisierung selbst zeitlich positionieren und damit temporale Charakteristiken evozieren, die sich in der Wahrnehmung dieser Texte jeweils als ‚mittelalterlich‘ oder ‚modern‘ ausnehmen; es geht also um solche zeitlichen Setzungen, die zuvörderst moderne kategoriale Gattungszuschreibungen ‚provoziert‘ haben. Während mittelalterliche Texte häufig mithilfe sprachlicher Markierungen oder thematischer Schwerpunktsetzungen (höfische Kultur/Rittertum) ihre ‚Altertümlichkeit‘ (d.h. ‚Mittelalterlichkeit‘) ausstellen, weisen insbesondere Shakespeares Werke nicht nur Konstruktionen von ‚Modernität‘, sondern auch strategische Inszenierungen von Modernisierungsgeschichten auf, die, aus der Beobachterperspektive gesehen, das – oft ‚revolutionäre‘ – Umschlagen von ‚Mittelalter‘ in ‚Moderne‘ abbilden; dies geschieht häufig in poetologisch-novatorischen Kontexten, die die jeweiligen Konstruktionen und Verschränkungen multipler Zeitlichkeiten als sehr relevant für Modellierungen literarischer Autorschaft erscheinen lassen (Johnston 2008; Keller 2011a, 2016, Keller/Keller 2014; Rouse 2018, 2019).

Das dritte, wesentliche Anliegen des Teilprojekts war und ist es weiterhin, die Konzeptualisierung und Konstruktion verschiedener Antiken und Zeitlichkeiten für ein Text-Corpus zu untersuchen, das in dieser Hinsicht bisher vernachlässigt worden ist, die Troja-Dichtung des späten 14. Jahrhunderts (abgesehen von Chaucer), d.h., erstens die ersten englischen Übersetzungen in der Guido-Tradition (s.o.) und zweitens die zahllosen Werke, in denen Troja vermeintlich am Rande thematisiert wird und die das zentrale Anliegen der Qualifikationsschrift der Projektmitarbeiterin Margitta Rouse sind. Die Sichtung der auf Troja verweisenden Texte erbrachte, dass das Spätmittelalter eine regelrechte Begeisterung für unterschiedliche und ineinandergreifende poetologische Dimensionen des Troja-Stoffs kennt, die sich auch an Texten fassen lässt, in denen es nicht primär um Troja geht. Es zeigte sich, dass die Troja-Verweise in diesen Texten häufig als poetologisches Signal der Re-Textualisierung fungieren und damit als temporalisierte Chiffre für die vielschichtigen Relationierungsmöglichkeiten von ‚alt‘ und ‚neu‘ in mehr oder weniger ‚alten‘ und ‚neuen‘ wirkmächtigen Narrativen. So erwies sich etwa das Mirakelgedicht St. Erkenwald als ein überraschend bedeutsamer methodischer Schlüsseltext mit einem besonders nuancierten Verständnis für die Konstruktion und Verschränkungsmöglichkeiten verschiedener, ‚alter‘ und ‚neuer‘ trojanischer Temporalitäten (vgl. Rouse 2019 und ihr Vortrag auf der „Trojan Temporalities“-Tagung). Das kanonisch bis vor kurzem eher randständige Gedicht wurde bisher kaum auf seinen Zusammenhang mit Troja-Erzählungen erforscht. Erstmals hat Sophia Y. Liu (Liu 2011: 122-141) St. Erkenwald konsequent mit Blick auf den trojanischen Stoffkreis untersucht, dies allerdings aus psychoanalytischer Sicht ohne poetologische oder geschichtstheoretische Perspektiven. Angesichts der starken Präsenz Trojas in spätmittelalterlichen Texten lässt die poetologische und zeittheoretische Analyse St. Erkenwalds jedoch vermuten, dass es in mittelalterlichen Troja-Verweisen implizit, aber auch explizit, etwa in Musenanrufen, Widmungen oder Prologen sowie Verweisen auf Quellen, Augenzeugen oder Autoritäten vorzugsweise um die Reflexion der Darstellungsmodi des bekannten Stoffkreises geht, also um die rekursive Ästhetik des Re- und Neu-Textualisierens selbst. In narrativer Hinsicht zeigt sich eine solche reflexive Ästhetik etwa daran, dass durch Ekphrasen, Rahmungen, Prologe oder Verweise auf die Protagonisten des trojanischen Stoffkreises poetologisch wirksame temporale Zwischenräumlichkeiten inszeniert werden. In solchen Zwischenräumen werden zwar Anfang und Ende, Aufstieg und Niedergang, bzw. die Zukunft und das Ende der eigenen Gegenwart und Vergangenheit performativ miteinander verschränkt; gleichzeitig werden durch sie aber verschiedene ‚trojanische‘ (‚alte‘) Temporalitäten erzeugt, die jeweils ‚anders‘ (‚neu‘) diskursivierten Temporalitäten kontrastierend gegenüberstehen. Mit Blick auf Shakespeare hat man solche strategischen Aufhebungen chronologischer Ordnungen weitgehend eindimensional purifizierend als im ästhetischen Sinne ‚modern‘ erachtet. Dies gilt speziell für jene Texte, von denen angenommen wurde, dass sie ihre Modernität zeigten, indem sie auf den Troja-Stoff lediglich anspielten, da er als bekannt vorausgesetzt werden könne (Heffernan 1993: 76). Rouse hat hingegen bereits am Beispiel des Lukretia-Gedichts Shakespeares nachgewiesen, dass solche strategischen Aufhebungen der Chronologie nicht erst seit Shakespeare, sondern noch bei Shakespeare Gültigkeit haben (vgl. Rouse 2018). Im Sinne einer multitemporalen Perspektivik war es wichtig, Texte mit Troja-Bezügen im Vergleich mit spätmittelalterlichen Werken und Texten der Frühen Neuzeit zu betrachten.

Insbesondere die Werke Shakespeares haben einen derart wirkmächtigen Kanonizitätsgrad erreicht, dass die Forschung häufig dazu tendiert, sie nicht primär als Adaptation oder Re-Textualisierung bekannter Stoffe zu betrachten, sondern als radikale Neuerungen, und dies sogar dann, wenn die Texte das Konzept der Adaptation selbst fokussieren. So analysiert Clare (2014) Shakespeare als Adaptierer und verknüpft dabei dennoch Konzepte frühneuzeitlicher Autorschaft mit der Idee einer spezifisch modernen Originalität, die sich von ‚mittelalterlichem‘ – also tendenziell ‚unoriginellem‘ – Reproduzieren absetze, und schreibt damit eine Sicht auf mittelalterliche Autorschaft fort, die das Teilprojekt zu korrigieren sucht. In ähnlicher Form gilt dies auch für Chaucers Werke, wenn sie mit kanonisch weniger wirkmächtigen Texten in Beziehung gesetzt werden (vgl. Rouse 2019).

Polytemporal betrachtet, weisen mittelalterliche adaptierende Narrative eine erfindungsreiche Ästhetik auf, die es nötig machte, die temporalisierenden Aspekte des methodisch-theoretischen Begriffsfelds Wiedererzählen, Iteration, Imitation, Rekursion, Re-Textualisierung und Adaptation auf der Ebene der gegenwärtigen Theoriebildung genauer auszuleuchten. Dies war insbesondere mit Blick auf die unterschiedlichen Kanonizitätsgrade mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Texte zu leisten, denn die Wahrnehmung von Kanonizität beeinflusst die Wahrnehmung von Temporalität und umgekehrt (zur Temporalität des Begriffs Adaptation vgl. in Ansätzen bereits Johnston/Rouse 2014; Rouse 2014, 2018). Wichtig wurde im Zuge der Analysen die symmetrische Betrachtung ästhetischer Urteile zur Begründung von Kanonizität – mit symmetrischer Betrachtung ist hier gemeint, dass ästhetische Urteile analytische Wirksamkeit haben und gleichzeitig analytische Beobachtungen ästhetische Urteile bewirken (vgl. Rouse 2019). In der Auseinandersetzung mit der Kanonizität der Texte untersuchte Rouse zudem die kohärenzstiftende Geschichte der wissenschaftssoziologischen Wertungen bzw. Bewertungen der Texte, also die Frage, wie sich temporale Kohärenz – oder ein bewusster Einsatz von Anachronismen – mit ästhetischen Wertungen verbindet.

Ananya Jahanara Kabir sowie Patricia Clare Ingham und Verena Lobsien gaben im Rahmen der Diskussion des Teilprojekts wichtige Impulse für die zweite Förderperiode, in der Fragen der Epochisierung und der Gattungspoetik stärker ins Zentrum rücken. Die Abschlusstagung erbrachte für das Projekt einen wichtigen, bestätigenden Hinweis auf die Bedeutung von Ironiesignalen als Novationsmoment, durch die es etwa Chaucer gelingt, eine bestimmte Form des Originalitätsdiskurses in einen kulturellen Kontext einzubetten, der Praktiken der Imitation, Repetition und Adaptation bewusst ausstellt und wertschätzt. Mit Verweis auf Raymond Williams’ Begriffstrias ‚emergent‘, ‚residual‘ und ‚dominant‘, mit denen er hegemonialen Wandel beschreibt (Williams 1977: 121-127), betonte Ingham die grundlegende Bedeutung von temporalen Wertzuschreibungen, die mit Gattungs-, Periodisierungs- und Autorschaftskonzepten einhergehen und diese miteinander verschränken; gleichzeitig erbrachte die Diskussion, dass die zuverlässige Identifikation von Ironie als Signal der Entwertung oder Wertaufladung ein nahezu unlösbares Problem darstellt, da die Identifikation von Ironie grundsätzlich beobachterspezifisch ist. Solche Fragen von temporalen Wertzuschreibungen und ihrer Wirkung auf Gattungszuschreibungen erwiesen sich bereits in der Arbeit der ersten Förderperiode immer wieder als eng verwoben mit der grundsätzlichen Purifikation und Hybridisierung verschiedener Zeitlichkeiten im Hinblick auf die trojanische Stofftradition. Während der Abschlusstagung bestätigte insbesondere auch Kabir die Tragfähigkeit des an Latour orientierten theoretischen Modells der Hybridisierung und gleichzeitigen Purifzierung von unterschiedlicher Temporalitäten. Die erste Förderperiode zeigte, dass sich die Aushandlung des ‚Neuen‘ mit Blick auf das ‚Alte‘ in spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Troja-Geschichten primär in der strategischen Konstruktion bzw. Purifikation und nachfolgenden multiplen Verschränkung bzw. Hybridisierung unterschiedlicher Temporalitäten vollzieht. Die leitende Hypothese für die zweite Förderperiode lautet, dass Purifikationen, Dichotomisierungen und Hybridisierungen in der Aushandlung von ‚neu‘ und ‚alt‘ in den Troja-Bearbeitungen der verschiedenen Stränge häufig über Gattungssignaturen als Stil- und Gattungszuschreibungen operieren und so einen großen poetologischen Stellenwert haben, nicht zuletzt, weil diese in keinem ‚sauberen‘ Gattungssystem aufgehen – oder aufgehen könnten. Zu fragen ist insbesondere, welche Rolle explizite und implizite Bezugnahmen auf Gattungen – und über sie vorgenommene Epochisierungen – vor dem Hintergrund konfligierender Antike-Konzeptionen für die Aushandlung von Neuem auch in vormodernen Konzeptualisierungen literarischer Autorschaft und Novation spielen.

 

TP 04: „Denkformen des Neuen in der venezianischen Kunstliteratur des Cinque- und Seicento“

Statement: Eva Struhal (Université Laval Québec)

Response: Valeska von Rosen/Anja Brug (Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf)

Analog zu den im Partnerprojekt TP 02 interessierenden Konzeptualisierungen nicht-teleologischer Entwürfe der historischen Entwicklung künstlerischer Werke ist es auch im kunsthistorischen Teilprojekt 04 Ziel zu zeigen, dass es in der italienischen Kunstliteratur der Frühen Neuzeit plurale Denk- und Argumentationsfiguren für das ‚Neue‘ und die Relationierung von Vergangenheit und Gegenwart in den Künsten gab, die in ihrer Diversität bislang erst in Ansätzen wahrgenommen wurden. Dabei war die Fokussierung in der ersten Laufzeit der Forschungsgruppe 2305 unter dem Titel „Denkformen des Neuen in der venezianischen Kunstliteratur des Cinque- und Seicento“ auf das Medium des Textes konzentriert. Während bezüglich der Konstruktion des Vergangenen und der auf ihr basierenden Entwürfe des Gegenwärtigen in der Forschung Giorgio Vasaris Kunstgeschichtskonstrukt große Aufmerksamkeit erhielt, das die Entwicklung ‚der Kunst‘ vom ausgehenden Mittelalter bis zur Hochrenaissance auf der Basis normativ gesetzter Kategorien als lineare Fortschrittsgeschichte bestimmt und der Disziplin auch die epochalen Binneneinteilungen (Frührenaissance = „seconda età“, Hochrenaissance = „maniera moderna“ oder „nova“) vermittelt hat, ging es in der ersten Laufzeit des Projekts um den Nachweis, dass in der übrigen italienischen Kunstliteratur des 16. und 17. Jahrhunderts, teilweise unabhängig, teilweise in ostentativer Distanzierung von Vasari alternative Denkmuster hinsichtlich der Frage entwickelt wurden, wie und auf welchen Ebenen sich Neuheit in den Künsten manifestiert und vom Vorgängigen und Tradierten unterscheidet. Exemplarisch wurde und wird dies für die venezianische Kunstliteratur des 16. und 17. Jahrhunderts untersucht, weil in ihr, wie zu zeigen ist, der Reflexionsgrad in Bezug auf diese Themen besonders hoch ist.

Im Projekt wird aus zwei Perspektiven gezeigt, dass zu Lebzeiten Vasaris und durch die Generationen nach ihm durchaus alternative Formen und Modelle für das ‚Denken des Neuen‘ entwickelt wurden. Die Projektleiterin, Valeska von Rosen, hat sich einerseits mit der Kunstliteratur des Cinquecento beschäftigt (Projektteil I); sie und die Projektmitarbeiterin Anja Brug haben sich außerdem gemeinsam einem monumentalen Text des Seicento, der Carta del navegar pitoresco des venezianischen Literaten und Kunsthändlers Marco Boschini, gewidmet, der wesentlich darauf abzielt, ein Gegenmodell zu Vasaris grand récit zu entwickeln und zwar sowohl hinsichtlich der Beschreibbarkeit der diachronen Veränderungen in den Künsten als auch des adäquaten Schreibens über visuelle Medien überhaupt.

Die Arbeit der ersten Förderperiode hat erwiesen, wie die venezianischen Autoren Paolo Pino, Pietro Aretino und Ludovico Dolce teilweise gezielt gegen Vasari künstlerische ‚Neuheit‘ als Kategorie fassen (von Rosen 2019a). Gegen das Postulat einer „nuova maniera“, die mit einem bestimmten stilistischen, normativ gesetzten Ideal verknüpft wird und die überdies perspektivisch auf die Vergangenheit ausgerichtet ist, weil es für die Künstler der ‚Moderne‘ gilt, mit diesem Ideal schrittweise eine antike maniera wiederzugewinnen, setzen sie ostentativ die Pluralität ‚neuer‘, je verschiedener Elemente in der Malerei. Insbesondere Dolce macht sich dabei in seinem Dialogo della pittura intitolato Aretino von 1557 kalkuliert die diskursiven Bedingungen der Gattung des Dialogs zunutze, indem er die verschiedenen Standpunkte auf die Gesprächspartner verteilt und so deren Argumentationsweisen nachvollziehbar werden lässt. So inszeniert er einen ‚offenen Dialog‘ der beiden Gesprächspartner, die bezüglich der Frage, welche Richtung in der Malerei für jüngere Generationen verbindlich ist, konträre Positionen vertreten. Das bemerkenswerte Moment dabei ist: Die Diskutanten einigen sich am Ende nicht, die Frage nach dem ‚Neuen‘ mit normativem Charakter bleibt offen, den Leser*innen bleibt überlassen, für sich zu entscheiden, ob sie der Argumentation des Toskaners folgen, der – in auffälliger Parallele mit Vasari – ein solches Ideal in der Kunst Michelangelos verkörpert sieht oder ob sie dem Venezianer „Aretino“ folgen wollen. Dieser vertritt aber nicht etwa einfach die gegenteilige Position und postuliert in analoger Weise ‚die‘ Perfektion in der venezianischen Malerei generell oder konkret im Œuvre Tizians, sondern votiert vielmehr für die Unentscheidbarkeit der Frage aufgrund der Vielzahl der möglichen Sichtweisen auf künstlerische Phänomene. So wird die Pluralität der Möglichkeiten und auch des ‚Neuen‘ den Leser*innen regelrecht vorgeführt, das diskursive Potential der Gattung des Dialogs genutzt und kalkuliert gegen die lineare und auch – trotz unseres Wissens um die Existenz von Koautoren – monologische Argumentation Vasaris in der Gattung des Traktats ausgestellt.

Das Teilprojekt hat betont, dass nicht Vasaris monologische Argumentation signifikant ist für die Episteme der Renaissance, sondern diese vielmehr als Versuch zu bewerten ist, die dem Autor bewusste Pluralität der Diskurse in und mittels eines linearen und teleologischen Narrativs quasi zu ‚bändigen‘ – wodurch seine Vite aber auch Index dieser allenthalben reflektierten Pluralität sind. Diese Überlegungen lassen sich mit Bezug auf das von Vasari absolut gesetzte Perfektionskonzept weiterführen, das ein a priori normativ gesetztes Ideal begrifflich fasst (von Rosen 2019c). Vasaris Gebrauch des Terminus kongruiert weder mit der Verwendungsweise desselben in der älteren (antiken und frühneuzeitlichen) Rhetorik noch in der Kunsttheorie der Antike oder Frühen Neuzeit, wie den venezianischen kunsttheoretischen Dialogen. Denn diese kennen nur ‚Perfektionen‘ im Hinblick auf je verschiedene Bezugssysteme, aber kein absolutes Ideal, das auf linearen Entwicklungsvorstellungen in Bezug auf die Künste gründet.

Im zweiten Projektteil steht der mit 20.000 Versen monumentale Dialog La Carta del navegar pittoresco (1660) des Venezianers Marco Boschini im Mittelpunkt, der sich mit der Geschichte der venezianischen Malerei des Cinque- und Seicento beschäftigt und bereits auf struktureller Ebene die Alterität gegenüber Vasaris dreiteiligem Vitenwerk herausstellt. Denn die Carta ist in Reimform (Quartinen) und in Dialekt verfasst und inszeniert, unterteilt in acht als „Winde“ überschriebenen Kapiteln, in dialogischer Form die Unterhaltung der beiden Gesprächspartner, die sie während ihrer Reise in einer Gondel zu den Kunstwerken bzw. vor denselben in ihren originalen Präsentationszusammenhängen führen. Mithin analysieren sie künstlerische Entwicklungen nicht wie Vasari im linearen Modus und auf ein von vornherein a priori gesetztes Perfektionsideal hin, sondern quasi jeweils in historischen Schichtungen und im Modus des Vergleichs, wobei sie besondere Aufmerksamkeit auf die Gattungszugehörigkeit der Werke richten. Bedingt durch die Reim- und Dialektform sowie die hochgradig metaphorische und allusive Sprache war die Carta bereits im 17. Jahrhundert außerhalb Venedigs kaum verständlich und wurde auch in der kunsthistorischen Forschung trotz der modernen kommentierten Edition durch Anna Pallucchini 1966 nur in Teilen rezipiert. Um die These plausibilisieren zu können, dass sich Boschini nicht nur in zahlreichen Passagen explizit mit Vasaris Vitenwerk kritisch auseinandersetzt, sondern die Carta in ihrer Gesamtheit implizit als Gegenmodell zu dessen progressistischen Narrativ angelegt ist, das die Unmöglichkeit des linearen und kontextunabhängigen Schreibens über Kunst an konkreten Beispielen vor Augen führen will, ist die vollständige Übersetzung und Kommentierung des Texts durch Anja Brug und die Projektleiterin unabdingbar.

Die ersten Ergebnisse dieses Projektteils haben gezeigt, wie Boschini die Dialogstruktur seines Textes performativ-theatral ausrichtet und der Linearität in Vasaris Konstrukt ein quasi ‚mäandrierendes‘ Ordnungsmodell der Künste entgegensetzt, indem sich die Reihenfolge der besprochenen Kunstwerke aus deren topographischer Verortung ergibt. Boschinis Konzeptionen eines genuin malerischen fare und operare suchen die veritable Tätigkeit und Handarbeit des Malers an der Leinwand zu fassen und setzen sich dabei von den auf die Kategorien ingegno und idea basierenden Denkmustern zur künstlerischen Tätigkeit in seiner Zeit ab (von Rosen 2019b).

Die Dialogpartnerin des Teilprojekts, Eva Struhal, stand schon seit einiger Zeit mit dem Projekt in produktivem Austausch. So entstand der Wunsch, den Dialog auf der Abschlusstagung der ersten Laufzeit mit ihr weiterzuführen. Sie hat nicht nur dem Florentiner Historiographen Filippo Baldinucci grundlegende Studien gewidmet (Struhal 2016), sondern auch zu dessen Umfeld, für das Marco Boschini als Kunsthändler tätig war, vor allem aber zu dem Maler und Dichter Lorenzo Lippi und dessen heroisch-komischem Epos Malmantile riacquistato wichtige Forschungen vorgelegt (Struhal 2007, 2013, 2017). In ihrem Tagungsbeitrag kristallisierten sich für das TP 04 maßgebliche Anknüpfungspunkte heraus, da etwa Boschini genauso wie Baldinucci und Lippi in den gleichen gelehrten Kreisen verkehrte, sich Lippis und Boschinis in Dialekt und in Reimform verfasste, performative Texte im Ambiente der Florentiner respektive venezianischen Akademien großer Beliebtheit erfreuten und sich zudem in den zur Rede stehenden Schriften das in den Akademien vorherrschende tiefe Interesse an den neuen Erkenntnissen von Wissenschaft und Naturphilosophie niederschlug. Nicht zuletzt konnte Eva Struhal in einem ersten Vergleich der Niederschriften von Baldinucci und Boschini mit Überlegungen dazu, mit dem Konzept des ‚naturale‘ das in Vasaris Viten manifestierte dichotome Denken des 16. Jahrhunderts aufzubrechen, den Projektbearbeiter*innen wichtige Perspektiven aufzeigen. Ihr überarbeiteter Diskussionsbeitrag ist als Working Paper der FOR 2305 erschienen, und es ist geplant, den Dialog weiterzuführen.

 


Arbeitsfeld 4: Poetische und poetologische Codierungen und Umcodierungen von ‚alt‘ vs. ‚neu‘

Die literaturkonstitutive Traditionsgebundenheit tritt häufig dort besonders klar hervor, wo Literatur Postulate und Prozesse binnenliterarischer Novation reflektiert: Die diskursive Konstruktion des literarisch ‚Neuen‘ ist oft eine rekursive, in deren ‚Gegenwart‘ die ‚Vergangenheit‘ eine entscheidende Rolle spielt. Implizite und explizite Textpoetiken sowie darüber hinaus die mediale Präsentation der Texte lassen erkennen, wie Gattungszuschreibungen und nobilitierende Rückbindungen an etablierte Parameter anhand von formalen Eigenschaften ausgehandelt werden. Dabei können implizite und explizite Novationsansprüche auseinandertreten – ob beiläufig oder programmatisch – und das ‚Neue‘ kann aus moderner Warte deutlich andere Zeitkoordinaten annehmen als für die Zeitgenoss*innen selbst: Narrative der Entstehung, des Fortschritts oder des Verfalls, der Obsoleszenz oder der Antizipation stoßen auf Semantiken des Neuen als eines ‚Wildfremden‘, die durchaus heterogene Epistemologien zu integrieren vermögen.

So wird an der Epochenschwelle zum 17. Jahrhundert die wiederentdeckte literarische Form des hellenistischen Romans entweder als Prosaepos neu gewürdigt – auch wenn episches Erzählen traditionell an die Versform gekoppelt war – oder aber als zweitrangige Liebes- und Abenteuergeschichte abgetan. Gleichzeitig erlaubt die Prosa die Insertion von direkten und indirekten Zitaten, die wiederum entweder in ihrem Sentenzcharakter auch typographisch hervorgehoben und damit exponiert oder aber in Übersetzungen aus der Fremdsprache getilgt werden, entsprechend Verortungen des Romans zwischen narrativem Vehikel moralphilosophischer Reflexion und atemloser Abenteuerhandlung. Entscheidend für die Aushandlung der Gattungszuschreibung ist in den jeweiligen Kontexten die affektive Färbung, welche den Texten verliehen wird und welche veränderte Bedürfnisse unterschiedlich bedienen kann (TP 07). Vergleichbar komplex verschränken sich im universalen Liebesdiskurs vor allem des Spätmittelalters ‚alte‘ Gattungs- und Stiltraditionen bzw. episch-lyrische Formzitate zu ‚neuen‘, intertextuell dichten, Rekombinationen. Hyperbolische Übererfüllung von Konvention führt dabei nicht selten dazu, dass Neuerung ironieverdächtig als ihre eigene programmatische Verneinung auftritt. Seit dem 14. Jahrhundert lässt sich ein literarisch produktives Spannungsfeld zwischen Form-, Stoff- und Wissenstraditionen beobachten. Lyrik-Sammlungen tradieren auch Sprechversdichtung bzw. Minnereden, die als widersprüchlich „komplexe Reduktionsformen“ gelten, weil sie alt-neue Gattungsmuster kurzschließen und die narrative Unmöglichkeit des Hohen Sangs qua allegorischer Erzählung ins epische Format übersetzen. ‚Alte’ Minnesang-Psychodynamik wird mit zeitgenössisch aktueller scholastischer Wahrnehmungs- und Liebestheologie ‚neu‘ reformuliert, wobei sich Stilhaltungen und episch-lyrische Sprechakte in unübersichtlich verschachtelten Binnen- und Rahmenhandlungen mischen (etwa als Großerzählung in Reimpaarversen, mit lyrischem Prolog, ‚neuer‘ schriftliterarischer Kapitelgliederung und Digressionen im ‚alten‘ Minnesang-Gestus). Am Ende des Spätmittelalters kursieren einige von diesen Texten in gekürzten Vers- und Prosa-Fassungen, die den höfisch-gelehrten universalen Liebesdiskurs nachträglich überraschend retheologisieren und dabei nicht nur Gattungs- und Diskursinterferenzen, sondern auch insgesamt das Spiel mit wissensgesättigten Allusionspoetiken zurücknehmen, vor dem Hintergrund poetischer und poetologischer Umcodierungen von ‚alt‘-‚neu‘ (TP 01).

 

TP 01: „Neuerung als paradoxer Effekt ihrer Infragestellung im Liebesdiskurs des Mittelalters und der Frühen Neuzeit“

Statement: Hartmut Bleumer (Georg-August-Universität Göttingen)

Response: Susanne Köbele/Tim Huber (Universität Zürich)

TP 01 zielt auf eine epochenprägnante Poetik und Pragmatik liebeslyrischer Novation im Spätmittelalter. Zentraler Untersuchungsbereich sind Minnesang-spezifische oder vom Minnesang initiierte zwiespältige Überbietungsdiskurse, die sich vor allem in mehrdeutigen ‚Überkunstwerken‘ zeigen, im Spannungsfeld von Hyperbolik, Metakunst und Diskurstransgression. Das Teilprojekt geht von der Grundvoraussetzung aus, dass zur Erfassung der ambivalenten ‚alt‘-‚neu‘-Dynamiken lyrischer Transformationsprozesse vor allem Texte signifikant sind, in denen implizite (allusive, metaphorische, ironische, medial-performative) und explizite (argumentative, selbstreflexive) Formen der Diskursivierung von ‚Altem‘ und ‚Neuem‘ gegenläufig zueinander anzutreffen sind in temporaler Hinsicht (asynchron) wie in axiologischer Hinsicht (wert-asymmetrisch). Eine Schlüsselthese des Teilprojekts ist dabei, dass das Spannungsfeld heterogener und heterochroner Novationsansprüche im Fall des epistemisch hochintegrativen Minnethemas besonders komplex ist, weswegen die umstrittenen ‚alt‘-‚neu‘-Implikationen sich hier auf allen Ebenen vervielfältigen und mischen: über Diskursinterferenzen (weltlich-geistlich, antik-höfisch-christlich), Gattungsinterferenzen (zentral: Minnesang, Minnerede), mediale (mündlich-schriftlich, handschriftlich-gedruckt, Text-Bild) und kultursprachliche Interferenzen (volkssprachlich- lateinisch). Vor diesem Hintergrund konkretisieren sich für TP 01 die Ziele und Methoden wie folgt:

(1)  Die Vielschichtigkeit konkurrierender, impliziter und expliziter Neuerungsdiskurse stellt das Teilprojekt für die ausgewählten Textkonstellationen zum einen vor die Aufgabe, den Zusammenhang von Gattungswandel und Epochenprägnanz zu präzisieren. Im Spätmittelalter haben bekanntlich Novationsdiskurse auf verschiedenen Feldern Konjunktur (‚Neue‘ Rhetorik, ‚Neue‘ Logik, ‚Neue‘ Medizin, Ars nova in der Musik, Poetria Nova, etc.). Der spätmittelalterliche Minne-Diskurs, der als eine Art Katalysator und hochintegratives Metathema sehr viele dieser ‚alt‘-‚neuen‘ Epistemologien aufnimmt und verwandelt, ist ohne Zweifel ‚epochal‘. Als ‚alt‘-‚neues‘ Minne-Spiel (mit alten siten niuwe Pz. 291,20) wird er in der Lyrik spezifisch, verschiebt sich aber gattungsmischend ‚ungleichzeitig‘. Mit Hilfe einer relativen Vergleichsheuristik sucht das Projekt hier in Vor- und Zurückgriffen ein möglichst feines Raster für das Zusammenwirken von ‚Alt‘ und ‚Neu‘ auf mehreren Beobachtungsebenen zu entwickeln. Unbestritten steigt der Novationsdruck und mit ihm die Bereitschaft zu Novationsreflexion bereits um 1230 an und wird in den Texten nach 1400 auf je eigene Weise virulent. Lassen sich Spätzeit-Syndrome als ambivalente Textinszenierungen rekonstruieren, etwa als Inszenierung von ironischen Anachronismen, lusorischen Novationsfiktionen oder widersprüchlichen ‚Novationsnostalgien‘, wie sie etwa in der gattungsexperimentellen episch-lyrischen ‚Minneburg‘ durch gezieltes Auseinandertreten – oder sekundäre Entdifferenzierung? – von historisch ‚Altem‘ und epistemisch ‚Neuem‘ beobachtbar werden? Sind intertextuell gesättigte Allusionspoetiken Spätzeit-Syndrome?

(2)  Konzeptionelle Klärung für das Teilprojekt benötigt vor diesem Hintergrund die Frage nach der Einschätzung spezifischer ironischer (oder unfreiwillig komischer), artistisch-souveräner (oder dilettantischer) Hybridisierungseffekte. Je topischer Gattungspoetiken festgelegt sind, um so größer die Neuerungsbereitschaft, je traditionalistischer poetische Programme, desto größer ihr immanenter Novationsdruck, und sei es im Modus einer widersprüchlichen ‚seriellen Novation‘. Erst recht die sogenannten Blümer produzieren Abweichung (Novation) in Serie, was schon zeitgenössisch den Verdacht neuerungssüchtiger, exzentrischer Unverständlichkeit auf sich zieht und als Stilgestus später im agonalen Diskurs je ‚neuer‘ ‚Alter Meister‘ bis in die Frühe Neuzeit auf seine Weise bewertet und zurechtgerückt wird.

(3)  Drittens ist für die Einschätzung von Allusionspoetiken die Frage nach Novationsspielräumen gerade im komplizierten Zwischenbereich zwischen Formansprüchen und Inhaltlich-Konzeptionellem klärungsbedürftig. Wo genau lassen sich im literarisch hochproduktiven Spannungsfeld zwischen Form-, Stoff- und Wissens-Traditionen ‚neue‘ spielerische Hybridisierungen von (Gattungs-)Stilen, bildsprachlichen oder metrischen, verssprachlichen Konventionen situieren, zusätzlich zu möglichen Umbesetzungen epistemologischer Hintergrundbedingungen von Gattungspoetiken, bis hin zu deren ironischer, kalkuliert unscharfer Inversion? Wie transportiert, reflektiert oder relativiert Form ‚alt‘-‚neue‘ Inhalte und Wissensbestände? Unter dem Aspekt „Alte Meister, neue Meister: Zeitgenössische Lyriker übersetzen Minnesang“ werden darüber hinaus jüngste Versuche kollektiver produktiver Minnesangrezeption mit in die Untersuchungen einbezogen (vgl. Marquardt/Wagner 2017). Diese Textsammlung ist für das Teilprojekt nicht zuletzt deswegen ein attraktives zusätzliches Forschungsobjekt, weil hier die Ebenen der poetischen Praxis, der autoreflexiven Selbstthematisierung, der (im Band mitreflektierten) historischen Theoriebildung sowie der analytischen Metaebene sämtlich auf einen Schlag beobachtbar sind. Insbesondere Walthers Lyrik, bis heute im kulturellen Gedächtnis verankert, evoziert quer durch die Jahrhunderte Übertragungen (Übersetzungen, Nach- und Neudichtungen), die das Spannungsfeld von literarhistorischer Kontinuität und Alterität auf verschiedenen Ebenen sichtbar machen.

Für alle drei genannten Problembereiche profitiert TP 01 in hohem Maße von den Forschungen von Hartmut Bleumer. Besonders ist weiterführend Bleumers Auseinandersetzung mit Gattungsinterferenzen, im Kontext seines (mittlerweile abgeschlossenen) DFG-geförderten Projekts „Lyrik und Erzählung. Metaphorische Transgressionen zwischen Minnesang und Minneroman des 12. bis 14. Jahrhunderts“. Im Minnesang und Minneroman des 12. bis 14. Jahrhunderts bilden sich, so Bleumer, über die paradoxe kulturelle Semantik der Minne Verhandlungsorte einer Narrativierung des lyrischen wie einer Metaphorisierung des narrativen Diskurses aus (Bleumer/Emmelius 2011). Bleumer ist außerdem für TP 01 ein wichtiger Impulsgeber als Spezialist für „generische Paradoxien“. Bleumer hat nicht nur zu Gattungsparadoxien im Tristan, sondern gerade auch zum ‚Lyrischen Erzählen‘ in Wolframs Titurel einen gewichtigen Aufsatz geschrieben (Bleumer 2011a); auch zwei Beiträge zum gattungshybriden Ulrich von Lichtenstein sind hier zu nennen (Bleumer 2011b; Bleumer 2010). Darüber hinaus sind sehr einschlägig Aufsätze zu Gattungsinterferenzen bei Walther (Bleumer 2005) oder zu „Autonarration und Metapher in der Lyrik Oswalds von Wolkenstein“ (Bleumer 2017). Bleumer hat des Weiteren Fragen Historischer Narratologie und historischer Ästhetik methodisch virtuosin engem Zusammenhang mit Diskurswandel rekonstruiert (vgl. Bleumer 2012), ein wichtiger Anschlußpunkt für Überlegungen zum historischen Wandel des Liebesdiskurses. Schließlich sind hier noch zu nennen seine Forschungen zur komplexen Medialität der Lyrik (vgl. z.B. das von ihm mitinitiierte Projekt „Gestimmte Texte“, ein Beitrag zum Verhältnis von Stimme und Schrift [Ackermann/Bleumer 2013]).

Unschwer läßt sich erkennen, da Bleumer – als Spezialist für Zwischentöne, für Spannungsfelder und paradoxe Schwebelagen – für TP 01 in mehrfacher Hinsicht ein wichtiger Impulsgeber ist, nicht nur mit seinen Forschungen zum Transgenerischen, zu Sprechakt-Interferenzen und diskursiven Paradoxien, sondern insbesondere auch methodologisch: mit seiner Weitsicht nach drei Seiten der Theoriebildung, der historischen Phänomenologie und der Seite der Fach- und Wissenschaftsgeschichte.

Mit seiner Bezugnahme auf Susanne Köbeles Aufsatz zu „Ironischen Heterochronien“ in Dichtertotenklagen (Köbele 2018) lieferte Hartmut Bleumer einen wertvollen Denkanstoss für das Dissertationsvorhaben des Projektmitarbeiters Tim Huber. In seinem Vortrag mit dem Titel „Reinmar lebt. Eine Replik im Modus der Ironie Walthers“ konnte Bleumer überzeugend darstellen, dass die Ironie hier unter anderem auch ein Effekt ist, der sich über ein spielerisches Transferieren des als Klage vorgetragenen Nachruf-Topos von Minnesang zu Sangspruch einstellt und sich somit zwischen den Gattungen konstituiert.

Im Hintergrund dieses Ansatzes sind Überlegungen auszumachen, die Bleumer auch andernorts in seinen gattungstheoretischen Schriften entwickelt hat und von denen TP 01 im Ganzen reich profitiert. In diesen Beiträgen unterscheidet er das Narrative und das Lyrische mittels unterschiedlicher Zeitfigurationen, wobei zunächst von einem paradox anmutenden, transgenerischen Gattungsverständnis ausgegangen wird, das eine trennscharfe, disjunkte, taxonomische Unterteilung derselben im Sinne von Klassen unterläuft. Das Lyrische evoziert nach Bleumer nämlich zunächst – auch wenn dies nur in minimaler Art und Weise geschieht – eine begrenzte, in sich geschlossene narrative Struktur, die es dann zeitlich entgrenzen kann (vgl. Bleumer/Emmelius 2011: 21 sowie Bleumer 2013: 169). Die Transgression des Narrativen werde somit zum Spezifikum des Lyrischen und vollziehe sich vor allem in der Performanz. Dort – so machte Bleumer auch in seinem Berliner Vortrag deutlich – bestehe jenseits einer schriftlich fixierten, visuellen, und linear verlaufenden Zeitfiguration die Möglichkeit, dem Publikum zugleich ein nicht-differentes Erfahren von Zeit ästhetisch zu vermitteln.

 

Wie hängt das Problem transgenerischer Zeitfigurationen nun mit der spezifischen ‚Ironie‘ in Walthers Reinmar-Klage zusammen? Reinmar verkörpert nach Bleumer geradezu das besagte lyrische Zeitmodell in seinem Minnesang: Die andauernde, je neue kunstvolle Klage ist bei ihm konstitutiver Bestandteil seines Sangs, wird sogar zur programmatischen Identität des Sängers. So versteht Bleumer dann auch den Namenszusatz ,der Alte‘ nicht als ein bloß ordnungsstiftendes Beiwort innerhalb eines mehrere gleichnamige Autoren umfassenden Liedkorpus, sondern als ironische Zusatzpointe: Da sich Reinmars je neuer Klagegestus durch eine zeitlich unbegrenzte Dauer auszeichne, wäre sein Alter mit dieser Lektüre ein metaphorischer Topos, der dem Sänger als Kunstfigur ganz unabhängig vom tatsächlichen Alter zukommen kann. Der Namenszusatz ,der Alte‘ würde dann auf den spezifischen Modus (auf den Spielcharakter) seiner Kunst verweisen. Walther führe Reinmar im Klagegestus fort und usurpiere, so Bleumer bereits an anderer Stelle (Bleumer 2012: 82), nicht nur dessen Liedpoetik, sondern zusätzlich auch die Altersrolle. Walther reproduziere Reinmars des ,Alten‘ Klage als ,neuer‘ Meister im Modus spielerischer Verschiebung. TP 01 kann an diese Thesen zum lusorischen Walther sehr gut anschließen, auch wenn es das Spiel mit dem nicht für das Mittelalter belegten Namenszusatz ,der Alte‘ nicht so weit treiben würde; der Zusatz stammt aus sehr viel späterer Zeit und soll Verwechslungen vorbeugen (mit Reinmar von Zweter, u.a.).

Die Pointe von Walthers Nachruf wäre in Bleumers Sinn mindestens eine doppelte: Sie bestünde einerseits in einem spannungsvoll-ironisierenden Ausspielen von propositional geäussertem Lob auf die Kunst Reinmars, die durch dessen Ableben ebenfalls vergeht, bei gleichzeitigem Überbietungsanspruch bezüglich der Kunst des Klagens. Andererseits wäre sie vor allem auch darin zu sehen, dass Walther den Sängergestus Reinmars imitiert und diesen in einer Verszeile sogar zitiert, das Ganze aber als Sangspruch unter andere Gattungskonventionen stellt: Im Gegensatz zum Minnelied sei für das Zeitmodell des Sangspruchs vielmehr von einer in sich geschlossen Struktur auszugehen, nimmt dieser – mit seiner eher kompetitiven Trägerschaft von gelehrten Berufsdichtern – nicht zuletzt auch Anleihen an juristisch-kasuistischen Diskursformen. So würden sich die Sprüche oftmals einer enthymemhaften argumentativen Struktur bedienen, wobei sie jedoch dazu tendierten, die durch Ober- und Untersatz nahegelegten Wahrscheinlichkeitsschlüsse gerade kunstvoll und durchaus pointenhaft zu enttäuschen. Die Transgressionsbewegung, die das Lyrische ausmache, werde hier also gewissermassen zurückgenommen, indem ein offenes, zeitlich andauerndes und somit genuin lyrisches Klagen in diese geschlossene Synthesestruktur überführt werde.

Bleumer zog schliesslich auch in Erwägung, dass der vorgenommene Gattungstransfer des Klagegestus von Minnesang zu Sangspruch für ein mittelalterliches Publikum sofort hörbar gewesen sein müsse: Im Gegensatz zum exklusiven Ton-Neuheitsanspruch des Minnesangs stellt es im Sangspruch nämlich kein Tabu dar, einen tôn mehrmals zu gebrauchen. Es findet sich derselbe tôn dann auch in anderen Sangsprüchen Walthers, die in ihrer vorwitzigen Scharfzüngigkeit von einem klagenden Duktus weit entfernt sind. Walthers Ironie sei damit für die Ohren seiner Zeitgenossen deutlich markiert.

Für Tim Hubers Herangehensweise an Hadamar von Labers Jagd, eine spätmittelalterliche Minnerede in Titurelstrophen, könnte gerade auch Bleumers transgenerischer Ansatz, der von je unterschiedlichen gattungsspezifischen Zeitfigurationen ausgeht, weiterführend sein. Der Text evoziert mit seiner Allegorisierung eines Minnebegehrens als Jagd zunächst eine begrenzte, teleologische und dadurch narrative Struktur, deren Ende dann erreicht wäre, wenn in der Jagd die Beute erlegt würde. Da der Text dieses Liebesbegehren aber im Sinne der Hohen Minne konzeptualisiert, wodurch die Dame (= das Wild) als unerreichbar idealisiert wird und der Minnediener (= der Jäger) sich freiwillig in den entsagungsvollen Liebesdienst unterwerfen muss, darf der Text sein bildsprachlich evoziertes, narratives Ende niemals erreichen. Das Zeitmodell der Jagd wäre in dieser Hinsicht also auch ein lyrisch-transgressives, spezifisch dasjenige des Minnesangs. Dies ist visuell und materiell insofern nachzuvollziehen, als sich der Text über mehr als 500 Strophen hinweg fortschreibt und sich in einer unbegrenzt scheinenden Offenheit perpetuiert.

Nicht nur inhaltlich imaginiert die jagende Sprechinstanz das Andauern der allegorischen Jagdhandlung jenseits seines Todes (vgl. zum „offene[n] Textende“ Steckelberg 1998: 86) – was poetologisch gelesen einem Fortbestehen der Jagdhandlung jenseits des Textendes entspricht –, auch die handschriftliche Überlieferung belegt, dass der Text unmittelbar als ein offener und potenziell erweiterbarer rezipiert wurde: So gibt es mehrere Handschriften, in denen die Jagd ohne sichtbare Zäsuren in andere Minnereden der Hadamar-Traditionslinie übergeht, also effektiv durch den jeweiligen Kompilator/Schreiber fortgeschrieben wurde (vgl. Steckelberg 1998: 89). Paradoxerweise wäre damit gerade die Länge als ein herkömmlicherweise nicht-lyrisches Gattungsmerkmal Ausdruck der lyrischen Zeitfiguration, aufgrund derer diese strophische Großform mitunter entstanden ist. Hierin wird zudem deutlich, dass die Verfasstheit dieses Textes sich zuletzt nur als eine transgenerische verstehen lässt.

Da sich Hubers Dissertationsvorhaben der Re-Funktionalisierung von Traditionsbeständen im Dienste einer gesteigerten, interdiskursiven Einbindung von Wissensbeständen annehmen will, interessiert ihn eine solche, die Gattungsgrenzen überschreitende Nutzbarmachung des Zeitmodells des Minnesangs für Hadamar schliesslich gleich in zweifacher Hinsicht: Dieses wäre selbst ein tradierter Bestand, dem als Perpetuierungsverfahren jenseits eines Minnetopos aber auch eine neue, wissensakkummulatorische Funktion zugewiesen würde.

Wie produktiv sich der Berliner Gedankenaustausch auch für Hartmut Bleumers eigene Forschung auswirkt, zeigt sich u.a. darin, dass er seine Berliner Überlegungen derzeit zu einem Aufsatz ausarbeitet, auf den wiederum TP 01 zu antworten versprochen hat.

 

TP 07: „Recodierungen von ‚alt‘ und ‚neu‘ in der novela bizantina des Siglo de Oro“

Statement: Karin Kukkonen (Wissenschaftskolleg Berlin/Universitetet i Oslo)

Response: Anita Traninger/Paolo Brusa (Freie Universität Berlin)

Mit der Untersuchung der Prozesse der ‚Wiederentdeckung‘ von Heliodors Aithiopika im 16. Jahrhundert fokussiert das TP 07 einen Gegenstand, der zu seiner Zeit selbst zu einer Novantiquitas gemacht wird und deren Adaptionen ihre entscheidendste Transformation gerade in der Verlagerung der raumzeitlichen Koordinaten des Musters und somit in der Modifikation des Chronotopos der Gattung finden. Zum Zeitpunkt seiner Wiederfindung und Neuverbreitung im frühneuzeitlichen Westeuropa stellt Heliodors Roman in den Augen der Zeitgenossinnen ein ‚altes‘ und damit autoritatives Werk und zugleich ein ‚neues‘, der aristotelischen Poetik unbekanntes, unter anderem aber aufgrund seines formalen Aufbaus vielversprechendes Modell für lange Prosaerzählungen dar. Zu den poetologischen Traktaten, die die Aithiopika als ‚alte Historie‘ in die Nähe und Würde des Epos rückten, gesellte sich bald eine an Heliodor geschulte literarische Produktion spanischer Sprache, welche jedoch in einem zentralen Aspekt von den Präskripten der Poetiken abwich. Die sogenannten spanischen novelas bizantinas weisen nämlich eine Tendenz zur Verlagerung der traditionell am exotischen Schauplatz stattfindenden Abenteuer in die zeitgenössische, oft mediterrane oder gar spanische Wirklichkeit auf – am deutlichsten ist dies gerade bei dem Initiator der literarischen Reihe, Lope de Vegas El peregrino en su patria (Sevilla 1604) zu beobachten. In Lopes Fall spielt die Handlung ausschließlich im Mittelmeerraum, vor allem aber in einem kleinen Teil der Iberischen Halbinsel. Der damit entstehende Kontrast zwischen dem fortgesetzten Unglück, das den aus der Oberschicht stammenden Hauptfiguren widerfährt, und ihrem Status als eigentlich privilegierten Inländern macht aus dem vertrauten Spanien ein fremdes und bedrohliches Szenario und profiliert eine Dimension der Deplatzierung und der Destitution, die den wichtigsten literarischen Novationsaspekt für das Genre im Siglo de Oro ausmacht.

Nach der Beschreibung und historischen und poetologischen Situierung der – wie wir sie bevorzugt nennen – novela helenizante de peregrinación, visiert das Projekt in der zweiten Förderphase eine Ausweitung der Perspektive auf den europäischen Kontext mit der Frage nach der Aneignung (Lektüre, Übersetzung, Theoretisierung und Verwendung für die eigene Produktion) des Heliodorischen Musters über die Iberische Halbinsel hinaus an. Diese komparatistische Perspektive wird entlang der französischen, englischen und deutschen Übersetzungen von Lopes Roman entwickelt, um unterschiedliche Netzwerke literarischer Praktiken transnational zu kartieren sowie anhand der Behandlung und Neuerarbeitung in den jeweiligen Kontexten zu erforschen, wie die ‚alt‘-‚neue‘ Gattung des Romans ganz unterschiedlich diskursiviert wurde. Damit stellt sich das Problem der generischen Konturierung, da sich die Untersuchung in einem Zeitraum bewegt, in dem die Texte nicht oder nicht eindeutig unter dem Begriff ‚Roman‘ verbucht wurden und die Gattung keine feste Stelle im literarischen System hatte. Zumindest vor Pierre Huets De l’origine des romans, das als Vorwort zu Mme de Lafayettes ‚griechischem Roman‘ Zayde (Paris 1670) erschien, hatte sich die Gattungsbezeichnung für lange, fiktionale Prosaerzählungen nicht eingebürgert, und auch dort trägt sie Konnotationen, die von einem späteren Romanverständnis deutlich abweichen. Klammert man aus diesen Gründen die Frage nach der Terminologie zunächst aus, indem man beispielsweise von ‚prose fiction‘ statt von ‚Roman‘ spricht (Glomski/Moreau 2016), bleibt jedoch ein weiteres Problem bestehen, worauf allen voran Juan Bautista Avalle-Arce hingewiesen hat. Nach Avalle-Arce bestehe für die novela bizantina hinsichtlich der Textkomponenten kein Spezifikum, das die Gattung von anderen, schon im 16. Jahrhundert etablierten Romanformen systematisch differenziere: jene stelle eine bloße Mischform aus vorgängig verfügbaren Elementen dar. Ritterliche Abenteuer, sentimentale und pastorale Liebesthemen sowie pikareske Wanderungen bilden nach Avalle-Arce, dem Herausgeber des Peregrino en su patria, die grundsätzlichen ‚Zutaten‘, die in der novela bizantina oder helenizante schlicht neu kombiniert würden (Avalle-Arce 1973: 29-30).

In einem in der Reihe der Forschungsgruppe erschienenen Working Paper haben Paolo Brusa und Anita Traninger im Rückgriff auf Michail Bachtin und in kritischer Auseinandersetzung mit den Rhetorical Genre Studies argumentiert, dass die Identifikation einer Gattung mittels einer kontextlosen Auflistung von Textmerkmalen wenig fruchtbar ist, da Gattungen aus konventionalisierten, historisch wandelbaren Praktiken der Zuschreibung resultieren, welche schon in der Produktion und Rezeption von Texten und nicht erst in deren poetologischen oder literaturwissenschaftlichen Systematisierungen wirksam sind (Brusa/Traninger 2018). Auf Simon Goldhills Bemerkung zum griechischen Roman aufbauend, dass Genres „ways of organizing emotional expectations“ sind (Goldhill 2008: 187), d.h., dass sie zur Vorstrukturierung der Erwartungen der Rezipientinnen dienen, indem sie ein Angebot möglicher adäquater emotionaler Reaktionen unter Rekurs auf konventionalisierte Kommunikationsmuster machen, hat das Teilprojekt vorgeschlagen, dass intra-, para- sowie extratextuell verankerte Signale ein je spezifisches ‚Affektregime‘ ausbilden. Dieses ist zu einem gegebenen Zeitpunkt mit einer Konstellation von Merkmalen konventionell assoziiert (Brusa/Traninger 2018: 12-14). Zentral ist dabei, dass konventionalisierte Praktiken der Lektüre mit in den Blick genommen werden müssen, woraus sich ein viel differenzierteres Bild ergibt als bei ausschließlicher Betrachtung der textuellen Systemebene – werden allein Textkomponenten kartiert, erscheinen alle Prosagenera des Siglo de Oro hybrid und sind unter einer solchen Perspektive nicht sinnvoll differenzierbar. Vor diesem Hintergrund erscheint eine Untersuchung der unterschiedlichen Lesepraktiken und Gebrauchskontexte für die Profilierung der jeweiligen Affektregimes von Gattungen und deren historischen Wandlungen fruchtbar. Zum anderen konnte mithilfe des Begriffs des Affektregimes spezifisch mit Blick auf die novela helenizante de peregrinación gezeigt werden, wie eine gewisse Konstellation hergebrachter narrativer Elemente ein Novum darstellen kann. Im Fall der novela helenizante ist diese Konstellation verbunden mit der Sensation der Wiederentdeckung Heliodors und seiner Lektüre und Funktionalisierung im Dienste einer neoaristotelischen Poetologie. Das Fesselnde und ‚Neue‘ des ‚äthiopischen‘ Modells liegt dabei an der Kombination der Elemente in der Handlungsführung und nicht an der Integration wundersamer oder exotisch-‚neuer‘ Inhalte.

Im Austausch mit Karin Kukkonen (Universität Oslo) fand diese praxeologische und affekttheoretische Perspektive auf die frühmoderne fiktionale Prosa sowohl Bekräftigung als auch Erweiterung. In ihrer Monographie 4E Cognition and Eighteenth-Century Fiction. How the Novel Found its Feet untersucht Kukkonen Poetiken und Praktiken des Prosaromans im 18. Jahrhundert anhand der kognitiven Theorie der 4 E (‚embodied, embedded, extended, enactive‘) und erörtert die entscheidende Rolle der literarischen Gestaltung affektiver Reaktionen in der Poetologie sowie in der Schreib- und Übersetzungspraxis vor allem des 18. Jahrhunderts (Kukkonen 2019). In ihrem Statement zum Arbeitsprogramm des Teilprojekts zeigte sie an erster Stelle, wie zentrale Regeln der neoaristotelischen Poetik durch affekt- und kognitionstheoretische Überlegungen motiviert waren. Beispielsweise war Horace Walpoles Einhaltung der aristotelischen Einheiten in The Castle of Otranto (London 1764) darauf bedacht, durch den komprimierten Charakter der Erzählung, die weder dem Helden noch der Leser*inZeit zur emotionalen Distanznahme einräumt, letztere zu einer unablässigen Reaktion auf den Text zu zwingen. Ebenso waren die Charaktere in Samuel Richardsons Pamela (London 1740) und Clarissa (1748) auf die Stimulation der (angenommenen) Vorstellungen von poetic justice bei den Leser*innen hin konstruiert, um deren emotionale Teilhabe an der Erzählung sicherzustellen. Auch die zentralen Kategorien des decorum und der Wahrscheinlichkeit, ob für die Charakterisierung der Figuren und deren Reaktionen oder aber für die Plausibilität der Abfolge der erzählten Ereignisse, waren – nicht anders als bei Aristoteles – für die immersive Wirkung des Genres von höchstem Belang. Die emotionale Disposition des Publikums bzw. deren Manipulation standen also im Zentrum des Interesses neoaristotelischer Poetiken, womit ein wichtiger Referenzhorizont auch für das Teilprojekt 07 benannt ist.

An zweiter Stelle bot Kukkonen eine Analyse von frühneuzeitlichen Übersetzungs- und Adaptionsdynamiken aus affekttheoretischer Sicht, welche für die komparatistische Perspektive auf Lopes europäische Rezeption ertragreich erscheint – zumal Kukkonens Beispielfall, Vital d’Audiguiers Histoire trage-comique de Lysandre et Caliste (Paris 1616), aus der Feder des wichtigsten zeitgenössischen Lope-Übersetzers stammt und selbst an die Tradition des hellenistischen Abenteuerromans anknüpft. Kukkonen zeichnete nach, wie William Dunscombes englische Version von d’Audiguiers Roman (Tragi-Comicall History, London 1627) relativ treu dem Original folgt: die emotionale Reaktion der Caliste und des Lysander werden dort wie bei d’Audiguier überwiegend durch den Erzähler referiert („surprise“ und „surprised“, „estonné“ und „astonished“, jeweils Seiten 21 und 8). Mit der Adaption von Ignace-Vincent Guillot de la Chassagne (Le Chevalier des Essars et la Comtesse de Berci, Paris 1735) wird indes die Gefühlsbeschreibung ausführlicher und gestützt durch die Darstellung körperlicher Reaktionen („Le Chevalier resta long tems immobile après avoir lû cette fatale lettre“, S. 35). Schließlich enthält Charlotte Lennoxʾ Version (The Memoirs of the Countess of Berci, London 1756) zusätzliche Angaben bis zu einer Anspielung an die körperliche Stellung der Leserin selbst, die, das Buch ebenso in der Hand, die Passage liest: „Pale, trembling, and overwhelmed with the deepest Despair, he remained for a long Time motionless, with his Eyes fixed on the fatal Letter which he still held in his Hand“ (Vol. 1, S. 21-22, unsere Kursivierung). Der Wandel im Umgang mit der Darstellung affektiver Reaktionen entspricht, so Kukkonen den ‚neuen‘ epistemologischen und philosophischen Interessen des späteren 18. Jahrhunderts, zeugt aber zugleich von der Kontinuität hinsichtlich der emotionalen Einbindung des Lesers als konstitutiv für die literarische Praxis des Romans in seinen transnationalen Netzwerken von Produktion, Transfer und Reflexion.

Gerade eine Figur wie d’Audiguier ist beispielhaft für den Netzwerkcharakter solcher literarischen Gebrauchs-, Transmissions- und Reflexionskontexte, welche sich schlecht auf den Rahmen der Nationalliteraturen reduzieren lassen. D’Audiguier (1569-1624), ein jüngerer Zeitgenosse Montaignes, der auch Cervantes’ Persiles y Sigismunda, die Novelas exemplares ebenso wie den Lazarillo de Tormes ins Französische übertrug, gehörte zum Gelehrtenkreis um Königin Marguerite. Im Vorwort zu Les diverses fortunes de Panfile et de Nise, seiner Übersetzung von Lopes Peregrino, liefert er, der auch die Heliodor-Ausgabe von Jacques Amyot revidiert und neu herausgegeben hat (Histoire éthiopique d’Héliodore, Paris 1609), eine Reflexion über die zeitgenössische spanische Literatur und lobt insbesondere Lope, dessen spanischer Erfolg als Begründung für die Übersetzung angeführt wird. Einer getreuen Übersetzung verweigert sich d’Audiguier aber explizit und tilgt insgesamt fast die Hälfte des Textes (für eine Übersicht anhand ausgewählter Beispiele siehe Vogler 1964). Insbesondere Lopes gelehrte Ambition mag d’Audiguier nicht gelten lassen und verzichtet nicht allein weitgehend auf die moralphilosophische Reflexionsebene, sondern macht diese – beziehungsweise ihre Negation – auch explizit zum Gegenstand seines Kommentars zur zeitgenössischen spanischen Literatur im Allgemeinen und zu Lopes Romanproduktion im Besonderen. Auf dieser Version beruhte wenige Jahre später die Übersetzung William Duttons, eines Juristen, über den kaum etwas bekannt ist, außer dass er 1611/12 am Exeter College in Oxford immatrikuliert war. In seinem The Pilgrime of Casteele (London 1621) werden bestimmte Dialogfragmente im originalen Spanisch belassen. So bleiben beispielsweise die Inschriften einer Gefängniszelle unübersetzt: „the word was from Ouid, and saith thus: O quanta pena es viuir, vida enojosa y forcada / Y quando la muerte agrada; ser impossible, morir“ – wobei sich die Frage stellt, ob es sich um eine Authentisierungsstrategie, die inschriftliche Materialisierung einer Fremdheitserfahrung oder eine singuläre Übersetzungsverweigerung handelt. Umgekehrt fehlen in Duttons Pilgrime alle autos sacramentales und die Mehrzahl der lyrischen Einlagen. Die zweite Auflage, 1623 und damit kaum zwei Jahre nach der Erstausgabe erschienen, wurde im Kontext der Spanienreise des Prince of Wales zur Brautwerbung publiziert. Schon die erste inspirierte zudem John Fletchers Drama The Pilgrime (London 1621; gedruckt 1647), das von dem Autor und vom später überarbeitend eingreifenden John Dryden als „comedy“ gefasst wurde – was wiederum Fragen der Gattungszuschreibung erneut eröffnet. Die deutsche Übersetzung, die Lopes Wahrhaftigkeitspoetik aufnimmt und unter dem Titel Warhaffte Beschreibung der wunderseltzamen abenthewrlichen Geschichten des Panfils vnd der Nise eine historia (s.l. 1629) vorlegt, ist so wenig erforscht, dass sogar die Attribution noch nicht abschließend fixiert ist. Während die Arbeitsstelle zur Erforschung der Fruchtbringenden Gesellschaft Wilhelm V., den Landgrafen von Hessen-Kassel, aufgrund von dessen Korrespondenz als Übersetzer identifiziert hat (Conermann 1998), führt das Verzeichnis deutscher Drucke des 17. Jahrhunderts (VD 17) Friedrich V., Kurfürst von der Pfalz (den „Winterkönig“), als Verfasser. Obwohl wiederum Vital d’Audiguier die Vorlage liefert, konserviert die deutsche Version viele der moralphilosophischen Ambitionen Lopes, inklusive einer Tugendlehre, die Beständigkeit, Geduld und Hoffnung als „Waffen“ des „Pilgram“ ausweist. Die Übersetzung als „Pilgram“ stellt auch die Frage nach der historischen Semantik des peregrino-Begriffs neu: Während im Teilprojekt für den spanischen Kontext eine interpretationsrelevante Polyvalenz nachgewiesen wurde (Brusa 2019), stellt sich die Frage, welche Konsequenzen gerade in protestantischen Kontexten die Festlegung auf den ‚Pilger‘ hat, wenn zugleich, wie bei Wilhelm V., die Begründung für die Pilgerschaft in Buch I drastisch gekürzt wird und insbesondere die Klage über die Reformation entfällt.

Die rasche und mehrfache Übersetzung des Peregrino sowie vieler anderer Prosaerzählungen der Zeit zeugt von dem Interesse an – und vielleicht von dem Bedürfnis nach – einer Form des Erzählens, die der Roman als emergierende Gattung in den späteren Jahren zunehmend bedienen würde. So gelangt man zu einer der Ausgangsfragen zurück, ob sich für derartige Texte – ungeachtet der unterschiedlichen Sprachverwendung zwischen Antike, Siglo de Oro und Moderne – sinnvoll von ‚Romanen‘ sprechen lässt. Wie gesehen, spielt die Novantiquitas Aithiopika eine konstitutive Rolle für die Profilierung des Affektregimes der novela helenizante ab Lope: Der wichtigste Marker dafür ist der charakteristische Einstieg in medias res, welcher zugleich als spannungsgenerierendes Dispositiv, als intertextueller Bezug auf die Heliodor’sche Tradition und als formales Korrelat zu dem Gefühl von Prekarität und Entwurzelung dient, in die sich Hauptfiguren sowie Leserinnen durch die rasche Folge von Schicksalsschlägen, die die Figuren ereilen, abrupt hineinkatapultiert sehen. Zudem sind, wie oben besprochen, die frühneuzeitliche Rezeption des antiken Textes und die daran inspirierte zeitgenössische Produktion in jene literarischen Praktiken eingebettet, die auch das Emergieren der später als ‚Roman‘ bekannten Gattung bedingten. So lässt sich, wenn nicht eine restlose Identität, so doch zumindest eine Verbindungslinie zwischen hellenistischen, frühneuzeitlichen und modernen ‚Romanen‘ festmachen (vgl. dazu etwa Doody 1996), welche zum einen die ‚Novität‘ des Romans als modernen Genre relativiert, zum anderen aber der Differenzierung bedarf.

Mit seiner Versetzung der Abenteuer in den vertrauten Erfahrungshorizont der Iberischen Halbinsel verändert Lope den Chronotopos der Gattung. Die affektive Dimension der Prekarität der Helden und dessen Statusverlust wird verstärkt durch die immersive Leseerfahrung, die mit der Annäherung des Schauplatzes erzielt worden war. Der Peregrino verleiht dem Heliodorischen Modell einen neuen pessimistischen Ton; einen neuen, nicht durchweg exemplarischen Typus von Held, der eine Spirale des Abstiegs durchläuft in der eigenen, ebenso wenig idealisierten Heimat. Diese Dimension der Deplatzierung und der Destitution verbleibt bei allen späteren novelas helenizantes als ein zentrales Element, das offenbar Interessen und Bedürfnisse des Publikums bediente. Mit der traditionellen Qualifizierung der Gattung als romance, wie sie die englischsprachige Hispanistik gepflegt hat, ist dieser Befund nicht zu versöhnen. Diese mitnichten wertfreie Einordnung als romance beruht auf der Vorstellung, dass das gattungstypische glückliche Ende ein Zeichen für die starke Idealisierung der Gattung darstelle, die somit von den modernen, antiidealistischen bis realistischen Zügen der novel klar zu differenzieren sei, welche prominent in Ian Watts The Rise of the Novel mit Narrativen des Aufstiegs der Gattung als Genre der Bourgeoisie und deren spezifischer Weltanschauung assoziiert wurden. Die Unterscheidung von novel und romance, die im 18. Jahrhundert als polemische Dichotomie zur Begründung und Legitimierung neuer Prosaformen aufkam, wurde in der angelsächsischen Literaturwissenschaft soweit naturalisiert, dass unter ‚romance‘ alle jene vermeintlich ‚älteren‘ Erzählformen subsumiert werden, die nicht der Projektion individueller Erfahrung verschrieben sind (vgl. Watt 1957). Diese terminologischen Setzungen verkennen allerdings sowohl die affektische Dimension der Deplatzierung bei Lope als auch im Allgemeinen die rinascimentale Faszination für Heliodor: Die verschachtelte Chronologie und die Tiefenstaffelung der Erzählebenen, die die Aithiopika aufweist, sind in den aus der mittelalterlichen Oralität herrührenden Ritterbüchern nicht zu finden, und der Unterschied wurde um 1600 deutlich als Dignitätsgefälle wahrgenommen. Die Strukturprinzipien der novela helenizante entstammen einer genuin schriftlichen Gattung – im Gegensatz zu einer solchen, die nach langer mündlicher Tradition verschriftlicht wurde (vgl. Traninger 2013). Die von der Literaturwissenschaft gleichermaßen unter dem Signum romance geführten Romangattungen wurden zeitgenössisch als distinkte Projekte gesehen. Mit der Beharrung auf der binären Unterscheidung von romance und novel, wie sie in der englischsprachigen Forschung üblich ist, wird aber eine qualitative, dichotome Unterscheidung zwischen ‚modern‘ und ‚nicht modern‘ impliziert, sodass die Frage nach dem ‚Neuen‘ mit der nach dem ‚Modernen‘ verbunden wird. Unter diesen Prämissen wird dann oft in den konkreten literarhistorischen Untersuchungen versucht, den Ausgangs- oder Wendepunkt für eine solche ‚Novität-Modernität‘ der Gattung früher oder später anzusetzen, oder aber andererseits die Kontinuität eines essentiellen Kerns des ‚Romans‘ durch die Epochenschwellen hindurch zu ermitteln. Angesichts der Komplexität der Phänomene im Spiel, die wir oben nur andeuten konnten, ist es vielleicht besser, nicht von dem „Rise of the Novel“, sondern von den ‚Rises of the Novels‘ zu sprechen, um die Vielfalt der Abläufe, der Netzwerke und der Texte zu vermitteln, die die Emergenz des ‚Romans‘ als eine Form literarischer Praxis bedingt haben, die in der Lage ist, verschiedene Arten von Diskursen zu vereinnahmen und nach wie vor Leser*innen zu fesseln – eine Pluralität, in der sich auch eine oft widersprüchliche Pluralität der Zeiten, der Geschichten und der Narrationen wiedererkennen lässt.

 

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