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Lateinische Lehrgedichte und didaktische Versatzstücke in der Epik des Großfürstentums Litauen

Auerochse

Auerochse

Arbeitsgespräche in Vilnius, 27.05.16-06.06.16

Bericht von Ramunė Markevičiūtė

Das Teilprojekt 06 „Philosophia cantat“ der DFG Forschungsgruppe „Diskursivierungen von Neuem“ stellt sich die Frage nach der Bedeutung, welche die traditionsgeladene Gattung des lateinischen Lehrgedichts im modernen wissenschaftlichen Diskurs des Späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit in Europa entfaltet. Was führt dazu, dass die akademische Gemeinschaft, der die lateinische Sprache noch bis ins 18 Jh. als sprachliches Medium dient, ihre philosophischen, biologischen oder physikalischen Errungenschaften ins alte Sprachgewand eines Lukrez oder Vergil kleidet? Ramunė Markevičiūtė, die wissenschaftliche Mitarbeiterin desselben Teilprojektes, hat sich gefragt, ob und welche Gestalt diese Tradition an der Peripherie der damaligen akademischen Welt, den wissenschaftlichen Zentren des Großfürstentums Litauen, annimmt und ist daher nach Vilnius gereist, um anhand von Gesprächen mit Spezialisten für lateinische Literatur in Litauen sowie anhand von Bibliotheksbeständen ein Bild von der Tradition des Lehrgedichts im Großfürstentum zu gewinnen.

Es ist zunächst beachtenswert, dass es einen so etablierten Begriff des Lehrgedichts, wie er im Deutschen gebraucht wird, und das damit verbundene Gattungsbewusstsein, das einen bestimmten Kanon von Texten umfasst, im Litauischen nicht gibt. Aus diesem Grund muss sich mit einem umschreibenden Terminus der „didaktischen Poesie“ geholfen werden. Bei solch einer Neuumschreibung sieht man sich allerdings gleich vor die Frage gestellt, wie weit oder eng man die Grenzen eines Lehrgedichts fasst. Kann zum Beispiel ein Epos als Lehrgedicht gelten, wenn es historische und handlungsethische Inhalte vermittelt?

Das berühmteste Werk lateinischer Literatur des Großfürstentums Litauen, das wohl am ehesten der Bezeichnung „Lehrgedicht“ entspricht, ist das sogenannte „Lied über den Auerochsen“ des Mikalojus Husovianas (De statura, feritate et venatione bisontis, Cracoviae 1523), welches auf Anfrage des jagdbegeisterten Papstes Leo X. entstand. In dem von der italienischen Jagdliteratur der Zeit geprägten Gedicht beschreibt der Dichter zunächst das in Wäldern des Großfürstentums hausende gewaltige Tier, um später im zweiten Teil geschickt zur politischen Rolle Litauens und der Größe seines wohl berühmtesten Großfürsten Vytautas überzuleiten. Aus der Feder desselben Autors stammt ein weiteres Gedicht, De vita et gestis divi Hyacinthi carmen, 1525, in welchem neben dem Leben des Heiligen auch Fragen des Christentums in Hinblick auf die Reformation besprochen werden. Die Fragen, wie weit solche Elemente als Lehrinhalte verstanden werden und somit auch didaktische Versatzstücke in der Epik des Großfürstentums zur Lehrdichtung gezählt werden können, was darüber hinaus die Ekphrasis von didaktischer Poesie unterscheidet, wurden im Gespräch mit Dr. Tomas Veteikis (Universität Vilnius) diskutiert [30.05.16].

Bei der Suche nach Lehrdichtung im baltischen Raum könnte ein weiterer Blick in das Königreich Polen interessant sein. Tomas Veteikis fiel in diesem Zusammenhang das als Aratea bezeichnete Werk des polnischen Dichters Jan Kochanowski aus dem 16. Jh. ein, in welchem er die von Cicero begonnene lateinische Paraphrase der griechischen Phainomena Arats zu vervollständigen und abzuschließen suchte. Kochanowski hatte in Italien studiert, stand in Verbindung zum berühmten Pléiade-Dichter Pierre de Ronsard, dichtete sowohl in lateinischer als auch in polnischer Sprache und wurde zu einem der wichtigsten Dichter der polnischen Renaissance. Stoff für mögliche Lehrdichtung konnte das Umfeld der artes mechanicae bieten, darunter die Navigation, Architektur oder Jagd. Erwähnenswert wäre hier das kunstvolle Gedicht des Schlesiers und Alumnus der Universität Krakau Adam Schröter über die Säuberung des Flusses Nemunas (Memel), De fluvio Memela Lituaniae, Cracoviae 1553. Diese wichtige Errungenschaft, durch welche der Fluss befahrbar für Handels- und andere Schiffe wurde, feiert der Dichter in Distichen, die ihm nach antikem Vorbild der Flussgott selbst vorsagte.

Die Fahnenträgerin der Forschung für die lateinische Literatur des Großfürstentums Litauen, Prof. Dr. Eugenija Ulčinaitė (Universität Vilnius), hat im Gespräch auf die Dichtung des Spaniers Pedro Ruiz de Moros hingewiesen, der nach dem juristischen Studium in Bologna auf Geheiß der damaligen Königin Polens, Bona Sforza, 1541 in die Akademie Krakaus als iuris doctor geladen wurde [31.05.16]. Roizijus (so sein litauischer Name), der ab 1549 im Dienste des Königs von Polen und Großfürsten Litauens Žygimantas Augustas (Sigismund August) stand, verfasste für den königlichen Hof zahlreiche Carmina, Epithalamien, Trauerlieder und Epigramme, darunter das als carmen didascalicum bezeichnete Werk Chiliastichon. In diesem zur Ankunft des päpstlichen Legaten Luigi Lippomano verfassten Gedicht greift Roizijus angesichts der drohenden Gefahr des Protestantismus, die Lehre Luthers scharf an und zählt all jene Nobelmänner Polen-Litauens, auf welche sich der Legat im Kampfe gegen die Reformation verlassen könne. Eugenija Ulčinaitė machte in diesem Zusammenhang auf die Rolle aufmerksam, die das Didaktische in dem Streit zwischen Reformation und Katholizismus spiele. Melanchton hatte neben den drei genera der Rede – genus demonstrativum, genus deliberativum und genus iudicale – eine vierte Redeart aufgezählt – das genus didascalicum, welches speziell dazu dienen sollte, den Gläubigen die wahren und richtigen Lehren des Christentums in dialektischer Weise vorzustellen und nahe zu bringen (vgl. E. Ulčinaitė, „Rhetoric in Lithuania in the 16th-18th Centuries: The Paradigms of Catholic and Protestant Didactics“, in: Das Baltikum im sprachgeschichtlichen Kontext der europäischen Reformation, Vilnius 2005, S. 111-123.). Diese didaktischen Strategien wurden im Zuge der Gegenreformation selbstverständlich von den Katholiken aufgegriffen.

Dr. Mintautas Čiurinskas (Universität Vilnius, Institut für Litauische Literatur und Folklore), der seinen Forschungsschwerpunkt auf Biographien und Hagiographien gelegt hat, verwies auf mögliche didaktische Inhalte in der lateinischen Märtyrerepik aus dem Raum des Großfürstentums [31.05.16]. Ein Beispiel dafür ist die Iosaphatis (Iosaphatidos sivi de nece B. Iosaphat Kuncewicz, archiescopi Polocensis Ritus Graeci, pro Unione et S. Sede Apostolica Romana, Vitebsci a Schismaticis caesi, Libri tres, Vilnae 1628), ein heroisches Epos auf den Tod des 1643 seliggesprochenen Josaphat Kunzewitsch, des ersten Märtyrers der Uniten. Der in äußerst kryptischem Latein verfasste Text beschäftigt sich neben dem Leben und Tod des Josaphat auch mit den Übeln des Schismas. Bei der Durchsicht von Katalogen zu im Großfürstentum Litauen im 17. und 18. Jh. gedruckten Werken, konnte ein weiteres, weitestgehend vergessenes und gänzlich unerforschtes Märtyrerepos über den polnischen Jesuiten Andreas Bobola gefunden werden (Epicum carmen de martyre Andrea Bobola presbytero Societatis Iesu, Vilnae 1792).

Nach der Durchsicht großer Teile der lateinischen Dichtung im litauischen Großfürstentum kann gesagt werden, dass diese stark an die öffentlich-politische Sphäre geknüpft ist. Werke, die man zu didaktischer Poesie zählen kann, dienen dazu, neben den Lehrinhalten vor allem auch eine bestimmte Position einzunehmen und zu propagieren. Dichtung wird vor allem verfasst, um bei diversen Feierlichkeiten öffentlich und feierlich vorgetragen zu werden. Diese Werke sind nicht selten panegyrisch geprägt, da im Mittelpunkt eine Feierlichkeit, sei sie verbunden mit dem öffentlich-royalen Apparat oder Errungenschaften der Technik oder Wissenschaft, eine bestimmte Person, ein Mäzen oder eine bestimmte zu vertretende Ideologie steht. Lehrdichtung ist mit anderen Worten vor allem Öffentlichkeitsarbeit.

Bei der Durchsicht der Bibliotheksbestände der Bibliothek der Universität Vilnius und der Bibliothek der Wissenschaften Vilnius ist ein Text aus dem späten 17. Jh. ans Tageslicht gekommen, der diesen Rahmen auf interessante Weise sprengt. Dabei handelt es sich um ein Lehrgedicht per definitionem, welches in Hexametern die Doktrin des doctor subtilis, des mittelalterlichen Philosophen Duns Scotus behandelt. Entstanden im Umfeld der fratres minores von Vilnius wirft dieser bisweilen unbekannte Text interessante Fragen zu den Hintergründen seiner Entstehung in einem Zeitalter auf, das durch Debatten geprägt war, welche die Scholastik längst hinter sich gelassen hatte. Diesen und anderen Fragen soll im Rahmen des Projektes nachgegangen werden.

 

Arbeitsgespräche wurden geführt mit:

Montag, 30.05.2016

Dr. Tomas Veteikis (Universität Vilnius)

Dienstag, 31.05.2016

Prof. Dr. Eugenija Ulčinaitė (Universität Vilnius)
Dr. Mintautas Čiurinskas (Universität Vilnius, Institut für Litauische Literatur und Folklore)