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Aktuelle Zeitgeschichte in der neulateinischen Epik des Quattrocento und der französischen Renaissance

Sarkophag

Sarkophag

Arbeitsgespräch im Rahmen des TP 03 „Die Pistole des Mars. Zeithistorische Novität und episches Formularium im Frankreich der Frühen Neuzeit“ (25.07.-29.07.2016)

Ort: WWU Münster, Seminar für Lateinische Philologie des Mittelalters und der Neuzeit, Bogenstr. 15/16, 48143 Münster

Bericht von Daniel Melde (unter Mitarbeit von Vivien Lara Bruns und Dr. Christian Peters)

Im Rahmen eines mehrtätigen informellen Arbeitsgespräches des Teilprojekts 03 „Die Pistole des Mars“ der DFG-Forschergruppe 2305 „Diskursivierungen von Neuem“ trafen sich Daniel Melde (FU Berlin, Doktorand TP 03), Vivien Lara Bruns (FU Berlin) und Dr. Christian Peters (WWU Münster), um über die Relation von Epos und Zeitgeschichte im Quattrocento zu diskutieren und darauf aufbauend mögliche Bezugspunkte zur Epik Frankreichs des 16. und 17. Jahrhunderts zu entwickeln.

Ausgangspunkt des Arbeitsgesprächs stellten die Arbeiten von Dr. Christian Peters dar (vgl. insbesondere die Dissertation Mythologie und Politik. Die panegyrische Funktionalisierung der paganen Götter im lateinischen Epos des 15. Jahrhunderts, Münster 2016), die in ähnlicher Weise wie das Teilprojekt 03 das spannungsträchtige Verhältnis zwischen aktueller Zeitgeschichte und deren Vermittlung in der Gattung des Epos, jedoch im italienischen Quattrocento, in den Blick nehmen.

In den verschiedenen Arbeitsgesprächen stellten die Teilnehmer*innen jeweils ein Epos vor, wobei sich an ein ca. 30-minütiges Impulsreferat eine gemeinsame Diskussion von etwa 60 Minuten anschloss. Als präsentationsübergreifender Fokus wurden einerseits die Funktion und spezifische Ausgestaltung des Götterapparats, sowie andererseits die Helden- bzw. Feindesdarstellung im Epos festgelegt.

Viele Epen im Quattrocento zeichnen sich insbesondere durch die Tatsache aus, dass der pagane Götterapparat zur panegyrischen Konfiguration von Zeitgeschichte funktionalisiert wird. So werden beispielsweise durch göttliche Interventionen bloße militärische Dienstleistungen zu heroischen Taten erhöht, was Vivien Lara Bruns in ihrer Präsentation zur dreizehn Bücher umfassenden Hesperis des Basinio da Parma (1425‒1457) über den italienischen condottiere Sigismondo Malatesta beispielhaft analysiert hat.

Sigismondo erhält zu Beginn des Epos von Jupiter bzw. Merkur den Auftrag, Italien vor dem einfallenden Feind Alfons von Aragon zu verteidigen und wird somit, obwohl er nur ein bezahlter Söldnerführer in Rimini ist, von Anfang an als Retter Italiens vom Rang eines Aeneas dargestellt. Durch die Verschmelzung von homerischen und vergilischen Szenen gelingt es dem Dichter zudem, Sigismondo nicht nur als gleichwertigen Heros darzustellen, sondern ihn sogar noch über die antiken Heroen zu erheben. Exemplarisch konnte dies an der Eingangsszene des Epos herausgestellt werden, die einerseits an das vierte Buch der Aeneis erinnert, andererseits an den Beginn des zweiten Buches der Ilias. Weder der Tadel des Merkur in der Aeneis noch die Täuschung des Agamemnon durch Zeus in der Ilias werden in der Hesperis aufgegriffen - jegliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Tuns von Sigismondo werden von den Göttern ausgeräumt, eine bloße condotta wird somit zu einem göttlichen Auftrag.

Schon am Anfang des Epos wird deutlich, dass Sigismondo aus dem Kampf gegen Alfons, der als würdiger Gegenspieler und zweiter Heros des Epos vom Rang eines Turnus bzw. Hektor stilisiert wird, als Sieger hervorgehen wird: Die Schicksalswaage entscheidet (erwartungsgemäß) zugunsten von Sigismondo und alle Götter fügen sich dem fatum. Auch diese concordia der Götter ist vor dem Hintergrund des antiken Götterapparats auffällig und trägt zur Überhöhung von Sigismondo bei.

Der pagane Götterapparat fungiert somit als eine Art „Polarisationsfilter“ (Peters 2016): Die genauen Gründe für die militärischen Operationen des Sigismondo werden verschleiert und seine bloßen militärischen Dienstleistungen werden zu heroischen Taten erhöht.

Ausgehend von einer Fallstudie in seiner Monographie Mythologie und Politik (Münster 2016), diese jedoch um einige Aspekte erweiternd, hat Christian Peters sich im Arbeitsgespräch mit der Borsias des Tito ‚Vespasiano‘ Strozzi auseinandergesetzt. Strozzi (1425-1505), ein Ferrareser Dichter und Beamter am Hof der Este, sah sich in seinem langen Leben und literarischen Schaffen nicht nur mit einer Vielzahl von Veränderungen in der politischen Großwetterlage seines Staates und ganz Italiens konfrontiert, sondern musste im Hinblick auf sein panegyrisch-episches Schaffen auch den Tod gleich mehrerer aufeinanderfolgender Patrone und möglicher Widmungsadressaten verwinden (Leonello, Borso, Ercole d’Este). Seinem Epos Borsias sind diese Wechselfälle und auch die lange Bearbeitungszeit (als Strozzi 1505 starb, währte die Arbeit an dem Werk schon 45 Jahre, in denen jedoch nur knapp 10 Bücher fertiggestellt werden konnten) in kompositorischer Hinsicht anzumerken, auch wenn Strozzi seinen Zeitgenossen und auch der modernen Quattrocento-Forschung zu Recht als einer der begabtesten und versiertesten lateinischen Dichter seiner Zeit galt. Die Schwerpunkte der Borsias-Lektüre in Peters‘ Beitrag waren zum einen die metapoetische Selbstverortung des im ersten Teil des Epos sehr präsenten Götterapparats, den Strozzi immer wieder betonen lässt, dass die großen Fragen des 15. Jahrhunderts (insb. die osmanische Expansion) keine Animositäten der Olympier untereinander mehr duldeten; zum anderen ging es um die besonderen Herausforderungen, die Leben und Wirken der „Helden“ der Borsias für deren Dichter bedeuteten: Nicht nur war der eponyme Borso d’Este illegitimes Kind Niccolòs III. und einer Mätresse; die außenpolitische Linie der Este im 15. Jahrhundert war auch dezidiert unkriegerisch und der Staat versuchte, sich als Stabilitätsanker der Region zu profilieren. Für beide Aspekte konnte insbesondere der Götterapparat von Strozzi mobilisiert werden, um kommentierend und camouflierend auf die Ereignisgeschichte einzuwirken. Dabei hat sich in der Diskussion insbesondere das Realitäts- und Fiktionalitätsverständnis narrativer Dichtung als ein weiter zu vertiefender Untersuchungsgegenstand erwiesen.

Die Epik Frankreichs des 16. und 17. Jahrhunderts, welche zeithistorisch rezente Ereignisse thematisiert und hier am Beispiel der Lutetias (1617) des Paulus Thomas I. (1565-1636) besprochen worden ist, steht sowohl politisch als auch poetologisch unter anderen Voraussetzungen als die Quattrocento-Epik. Die zunehmende Zentralisierung Frankreichs hat zur Folge, dass die literarische Produktion nicht regional gebunden bzw. an einzelne ‚Provinzfürsten‘ adressiert ist, sondern häufig in einen ‚nationalen‘ Kontext gestellt wird. Im Zuge der die Einheit Frankreichs bedrohenden Religionskriege stellt sich dann jedoch die Frage, wie Literatur ideologisch-konfessionelle Spannungen aufgreift und perspektiviert.

Die Lutetias, welche die konfliktgeladene Periode von 1584 bis 1590 um den Aufstieg von Henri IV behandelt, scheint sich mit ihrer annalistischen Bürgerkriegsdarstellung nur schwer in den poetologischen Diskurs der Zeit, der allen voran Vergil zum Modellautor für das Epos bestimmt, einzufügen. So konnte im Rahmen der Präsentation von Daniel Melde gezeigt werden, dass gerade Lukans Bellum civile als strukturelle Folie über weite Strecken präsent ist, jedoch insofern eine Modifizierung erfährt, als dass die Grauen der Religionskriege auf Gottes Zorn gegen die pietätlosen Regenten zurückgeführt werden. Der christliche Gott wird damit zur lenkenden, die Handlung bestimmenden Instanz. Die paganen Gottheiten, welche in der Gestalt Plutos und weiterer Unterweltdämonen präsent sind (in Anlehnung an Szenen aus Tassos Gerusalemme liberata und Claudians In Rufinum), treten im Epos als Gegenspieler Gottes auf, scheinen jedoch in ihrer Funktion, den Konflikt weiter anzuheizen, überflüssig. Vielmehr spielen sie dem strafenden Gott in die Hände, indem sie weitere ‚Bewährungsproben‘ für Henri IV auf dem Weg zum ‚richtigen‘ Glauben liefern.

Ein eindeutiges Held-Feind-Schema ließ sich in der Lutetias, im Gegensatz zu anderen zeithistorischen Epen über Henri IV (z.B. der Henriade von Sébastien Garnier), nicht feststellen. Die Akteure werden besonders in ihrer Ambiguität gezeichnet. Eine Lösung des Religionskonflikts wird lediglich im Rahmen von Prophezeiungen angedeutet (Konversion von Henri IV, Geburt seines Nachfolgers Louis XIII), die sich in ihrer Anlage an dem teleologischen Geschichtsbild Vergils orientieren und so zur Panegyrik auf den Widmungsadressaten des Epos beitragen.

Das Arbeitsgespräch konnte wichtige gattungshistorische Grundlagen für eine noch genauer zu bestimmende ‚Aktualitätsepik‘ herausarbeiten, die sich epochal in ihrem Profil unterscheidet. Während die Quattrocento-Epik zu einer Überhöhung eines regional verankerten Herrscherhauses neigt und dabei sich insbesondere der vergilisch-homerischen Gattungstradition bedient bzw. diese als eine Kategorie historisch verstandener Narrative überhaupt wieder etabliert, zeichnet sich die zeithistorische Epik Frankreichs durch eine stärker historiographisch orientierte, gleichzeitig aber auch auf eine Vielzahl epischer Traditionen (Antike, volkssprachliche Ritterepik) rekurrierende Darstellungsweise aus.

 

Das Programm im Überblick

Mo. 25.07.2016  
13.30-14.00 Uhr   Einführung, Vorstellung der eigenen Forschungen
14.00-15.30 Uhr   Präsentation I (Vivien Lara Bruns): „Basinio da Parma, Hesperis – Der pagane Götterapparat und seine panegyrische Funktionalisierung“
Mi. 27.07.2016  
14.00-15.30 Uhr Präsentation II (Dr. Christian Peters): „Tito Vespasiano Strozzi, Borsias – Wieviel arma virumque braucht ein Epos?“
Do. 28.07.2016  
14.00-15.30 Uhr Präsentation III (Daniel Melde): „Paulus Thomas I., Lutetias – Epische Verarbeitung von Zeitgeschichte zwischen multiperspektivischem Bürgerkrieg und göttlicher Providenz“
15.30-16.00 Uhr Abschlussdiskussion, Perspektiven